Klangkunst trifft Wissenschaft

Vom Sound der Kartoffel zum mündigen Kunden

28:15 Minuten
Rote und gelbe Kartoffeln.
Kartoffelsorten gibt es viele. "Natürlich" im eigentlich Sinn des Wortes ist keine. Die im Handel erhältlichen Knollen sind Zuchtprodukte. © imago / ITAR-TASS
Von Julia Diekämper  · 04.04.2019
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Ein Kunstprojekt für das Berliner Naturkundemuseum entdeckt die Kartoffel als Klanggeber: Sonifikation nennt sich das komplexe Verfahren. Es soll für Zucht und Genmanipulation sensibilisieren und die Pflanze als komplexes Konstrukt erfahrbar machen.
Kommunikationsprobleme im Konferenzraum "Schöneberg" im Funkhaus von Deutschlandfunk Kultur. Marcus Gammel, Leiter der Abteilung Radiokunst, hat um einen großzügigen Tisch Wissenschaftler, Künstler, Radioleute und Museumsmenschen versammelt. Thomas Hermann, Universität Bielefeld, wird per Skype dazu geschaltet.
Diese Gruppe ist zusammengekommen mit einer zunächst ziemlich seltsam klingenden Agenda. Es geht darum, Pflanzen Töne zu entlocken.

Pflanzen sind unsere Lebensgrundlage

"Das ist eine große Herausforderung in der Kommunikation, das den Leuten auch zu vermitteln", sagt Mathias Arlt, Molekularbiologe und Mitarbeiter bei "plant 2030". "Pflanzen sind immer ein bisschen: Ja, die gibt’s halt, die stehen halt rum, die machen nix. Ja, aber ohne Pflanzen könnten wir überhaupt nicht leben. Und das zu vermitteln ist im Prinzip Antrieb für unsere gesamte Aktivität."
Pflanzen sind unsere Lebensgrundlage. Und: Sie begegnen uns ja spätestens auf unseren abendlichen Supermarktstreifzügen, auf der Suche nach einem Abendessen. Sie sind aber auch hochgradig umstritten, spätestens wenn es um ihre gentechnische Veränderung geht. Unzählige Studien zeugen von großen Vorbehalten in der Bevölkerung, wenn es um Ernährung geht.

Offene Fragen der Pflanzenzüchtung

Im Januar 2019 veröffentlichte die Zeitschrift "Nature" eine experimentelle Studie über den Zusammenhang zwischen Einstellungen zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln und sogenanntem "Faktenwissen". Sie kommt zu dem Schluss: Menschen, mit geringem Kenntnisstand votieren am stärksten gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel und überschätzen gleichzeitig ihr Wissen.
Genau diesen Missstand gilt es zu beheben. Dafür muss man in einem ersten Schritt zunächst das Interesse an den offenen Fragen der Pflanzenzüchtung wecken. Denn man sieht Äpfeln, Tomaten oder Kartoffeln in den Regalen schwerlich an, wie genau sie entstanden sind. Aber wie schafft man das? Pflanzenzüchtung ist ein komplexes Thema – und ein politisches Thema. Eins, das uns alle angeht. Nicht nur Wissenschaftler. Doch wie kommt man ins Gespräch? Wie weckt man das Interesse für Pflanzenzüchtung? Leicht ist das nicht, merkt auch die Gruppe, die hier in Berlin versammelt ist.

Ein künstlicher Supermarkt für das Museum

Im Berliner Museum für Naturkunde soll daher für kurze Zeit ein artifizieller Supermarkt entstehen, der dazu einlädt, verschiedene Aspekte der Pflanzenzüchtung exemplarisch zu erkunden. Hier sollen nicht nur Schautafeln und Infokästen installiert sein, sondern die Teilnehmenden sollen vor allem sinnlich mit Kartoffeln oder Weizen zu tun haben können.
"Wir haben in der Reihe "Sonarisationen", die wir mit Thomas Hermann ins Leben gerufen haben, versucht, Felder zu finden, wo Daten für uns interessant werden, an die wir als normale Menschen aber gar nicht rankommen", erklärt Marcus Gammel, der den Klimawandel schon einmal fürs Radio vertont hat.
Seine neue Herausforderung ist der Klang von Kartoffeln, Tomaten und Weizen. Genauer: ihre biologischen Daten in Klänge zu übersetzten. "Hier geht es um Pflanzengene, weil wir täglich damit konfrontiert werden, was Züchtung oder Genforschung bewirkt, aber eigentlich keine Möglichkeit haben, das zu begreifen oder auch an die wissenschaftlichen Ursprünge zu kommen."

Von Kartoffeldaten zum Klang

"Unser Auge und unser Ohr sind sensitiv für ganz unterschiedliche Dinge", erklärt Thomas Hermann. "Unser Auge endet eigentlich auf der Oberfläche und können nicht in das Wesen der Dinge hineinschauen. Unser Ohr hört den Zusammenklang. Wir können uns beim Hören eines Orchesters auf das ganze Musikstück achten oder wir können auf ein einzelnes Instrument achten. Wir können das Gefühl mitnehmen, wir können uns aber auch auf Fehler eines Instruments konzentrieren. Genau wie beim Auge haben wir zwar eine Aufmerksamkeit, die wir organisieren können, aber die ganze Zeit nehmen wir auch immer den Gesamtklang wahr.
Sonifikation ist ganz salopp gesagt: Daten-Verklanglichung. Das heißt, es geht um Prozesse, die auf eine systematische und reproduzierbare Art und Weise Daten in Klänge übersetzen." Soweit Thomas Hermann, der mit seiner Arbeitsgruppe über Ambient Intelligence an der Universiät Bielefeld so ziemlich alles, was es gibt, rauf und runter durchsonifiziert.
Außer Kartoffeln - bis jetzt:
Die Kartoffelgeschichten, die hier hörbar werden, beruhen auf Daten. Daten von Pflanzen. Pflanzen, die in Golm bei Potsdam angebaut und wissenschaftlich erforscht werden. Am Max-Planck-Institut für Pflanzenphysiologie. Hier arbeiten die Biologen Henrike Perner und Mathias Arlt, die das Klangprojekt mit wissenschaftlicher Expertise immer wieder auf stabile Füße stellen. Schon von weitem sieht man Flachdächer. Keine Fenster.
"Die Klimakammer im Keller sind kleine Räume, wo man das Klima einstellen kann", erklärt Henrike Perner. "Das heißt: die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit, das Licht, wie lange es an und aus ist. Man kann auch die Lichtstärke einstellen. So kann man Pflanzen ziehen, so wie man sie gerne haben möchte."
Ein kleines Fenster in der Tür gibt den Blick auf unterschiedliche Gläser frei, in denen es mal mehr, mal weniger grünt. Hier wirkt nur wenig wirklich "natürlich". Hier lassen sich nicht nur verschiedene Pflanzen aus der Nähe beobachten. Hier werden auch unterschiedliche Möglichkeiten züchterisch einzugreifen sichtbar.
"Hier werden die Tomaten in sogenannte axenische Kultur oder Sterilkultur angezogen", erklärt Mathias Arlt. "Das hat den Vorteil, dass man von einer Pflanze ganz viele Pflanzen machen kann. Man muss die dann auf einen Nährboden setzen. Dann hat sie alles an Nährstoffen, was sie braucht. Licht bekommt sie dann durch das Glas - so handelsübliche Einmachgläser, in denen die drin sind. Dann kann man die auch mit Hormonen behandeln, damit sie zum Beispiel eher Wurzeln bilden, oder damit sie sich eher teilen."

Präzise Genmanipulation

Alle Pflanzen hier - und es sind wirklich viele verschiedene – sind durch ganz unterschiedliche Methoden entstanden. "Zum Beispiel, wenn man Mutationen macht oder, wenn man sie mit Crispr-Cas verändert. Oder auch mit gentechnischen Methoden oder sowas. Hier sind zum Beispiel gecrisperte Tomaten."
Gecrisperte Tomate. Auch wieder so ein Fachwort. Dahinter steckt ein Verfahren das CRISPRCas-9 heißt, das auch als Genschere bekannt wurde und Wissenschaftler seit seiner Entdeckung 2012 in Aufregung versetzt. CRISPR steht für "Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats".
Seit 2012 gilt das Verfahren als eine Option, die Pflanzenzüchtung zu revolutionieren. Und zwar nicht nur, weil es günstiger ist, als andere Methoden, sondern auch, weil es in der Lage ist, präziser im Erbgut zu schneiden. Punktgenau. Mit Crispr ist es möglich, einen Buchstaben im Erbgut auszutauschen.

Die Arabidopsis thaliana - der heimliche Datenstar

Wie komplex es ist, innerhalb unzähliger einen dieser Buchstaben zu verändern, wird allen im Laufe des Projektes klar. Spätestens dann, wenn es darum geht, ganze Genome zu vertonen. Neben blühenden Tabakpflanzen, stehen hier Geranien in verschiedenen Entwicklungsstufen wie auch die kleine Ackerschmalwand genannt, die Arabidopsis thaliana, die mit ihren blassen Blüten zwar unscheinbar wirkt, aber der heimliche Datenstar der Botaniker ist.
Nahaufnahme einer Kressesorte
Arabidopsis Thaliana - für wissenschaftliche Zwecke sehr beliebt.© imago/photothek/Michael Gottschalk
"Ein sehr unscheinbares, kleines Kraut", erzählt Mathias Arlt. "Aber es hat eine große Bedeutung für die Wissenschaft. Das ist eines der ersten Genome gewesen, das sequenziert wurde. Es ist sehr klein, man kann damit sehr gut arbeiten. Es gibt viele verschiedene Mutationssammlungen, sehr viele verschiedene Typen, die gesammelt wurden, die auch gut charakterisiert wurden. Man hat dabei viele Laborpraktiken ganz gut etabliert. Das ist eigentlich die Pflanze, mit der man eine grundsätzliche Idee als erstes überprüft, weil es damit am einfachsten geht."
Zugegeben: Die Arabidposis begegnet uns nicht im Supermarkt. Aber sie spielt im Sonarisationsprojekt eine Hauptrolle und zwar, weil sie eindrucksvoll die Komplexität von Erbgut versinnbildlicht und es sich vortrefflich mit ihren Daten jonglieren lässt.
Das Genom der Arabidopsis ist biologisch gesehen vergleichsweise kurz. Vergleichsweise kurz heißt aber immer noch 125 Millionen genetische Buchstabenpaare, die sogenannten Basenpaare. Würde man jedem Baustein dieses Genoms einen Ton zuordnen, würde es 195 Tage lang klingen. Ist immer noch kürzer als alles andere.

Die Komplexität selbst einfachsten Erbguts

Auch deshalb spielt die Arabidopis, die kleine Ackerschmalwand, trotz ihrer Unscheinbarkeit eine große Rolle im Vertronungsprojekt: An ihr lässt sich auch akustisch zeigen, wie viele Informationen ein Erbgut beinhaltet. Die verschiedenen Basenpaare sind dann als unterschiedliche Tonhöhe codiert.
"Wir haben ja begonnen, dass wir gerne diese neue Technik Crispr-Cas vorstellen wollten und zwar wollten wir sie mit dieser Sonifikation hörbar machen", sagt Henrike Perner. "Wir haben dann aber festgestellt, dass die typische Sonifikation eine große Datenmenge erfordert, die vergleichbar ist. Und da braucht man eigentlich eine Forschung, die über mehrere Jahre schon stattfindet.
Nun ist diese Technik relativ neu. Und wir haben keine großen Datensätze gefunden, die man vergleichen könnte mit alten Methoden und um Crispr in einer Art Sonifikation darzustellen. Deshalb haben wir uns entschieden, in dem Fall eine Art Modell mit der Arabidosis vorzustellen. Man kann dann hören, wie Mutation überhaupt stattfindet und anhand dessen die neue Methode vorstellen."
Mit der Arabidopsis lässt sich also nicht nur ein Eindruck gewinnen, wie komplex selbst ein einfaches Erbgut ist. Weil Forschende so viel über sie wissen, kann man mit ihr auch zeigen, was beim Kopiervorgang von einer Generation zur nächsten geschieht. Bei einer Mutationsrate von null Prozent ist der Kopiervorgang perfekt und jede Kopie der Sequenz klingt exakt gleich.
Datensätze die sind Dreh-und Angelpunkt für die Sonifikation. Die Arabidposis ist, was ihre Datenzugänglichkeit betrifft also ein Traum. Über sie gibt das Internet alles Relevante preis. Für die anderen Organismen, die das Berliner Projekt im Visier hatte, wie die Kartoffel, braucht es externe Hilfe, um entsprechende Datenmappings zusammenstellen zu können.

Der Kunde ist skeptisch

Es ist kalt in Berlin. Der Wind vor dem Messegelände treibt ein wildes Spiel mit den grünen Fahnen. Sie weisen Besuchenden den Weg zur Grünen Woche. Hier begegnen sich Konsumenten und Produzenten von Lebensmitteln hautnah. Am Stand des Bundessortenamtes wartet Erik Schulte und Steffan Haffke. Sie sitzen an der Quelle zu den Kartoffeldaten, die sie in einer Excel-Liste zur Verfügung gestellt haben:
Name: Adretta
Zulassungsjahr:
1975
Reifezeit:
mittelfrüh
Typus:
Speisekartoffel
Name: Agira
Zulassungsjahr: 1985
Reifezeit: mittelfrüh
Typus: Speisekartoffel
Name: Agila
Zulassungsjahr: 2006
Reifezeit: früh
Typus: Speisekartoffel
Name: Albertine
Zulassungsjahr: 2017
Reifezeit: sehr früh
Typus: Speisekartoffel
Der Stand ist mit aufgeschnittenen Äpfeln dekoriert, von denen die Vorbeistreifenden bereitwillig kosten. Es sind Produkte der hochtechnologischen Landwirtschaft, die zugleich unmittelbar natürlich wirken. Aber was heißt "künstlich" und "natürlich" eigentlich noch in Zeiten, in denen neueste gentechnologische Verfahren als Nachahmung von Natur gehandelt werden?
"Ich könnte mir eher vorstellen, dass die Verbraucher in der Bundesrepublik sagen, wenn das gentechnisch verändert ist, wollen wir es nicht haben", sagt Erik Schulte. "Das hat nicht unbedingt was mit Kenntnis oder mit Einsicht zu tun, sondern mit Gefühl, glaube ich. Das ist eine emotionale Sache. Zu uns kommen ja auch Leute an den Stand, die sagen: Oh, Apfel, sind da Gene drin? Dann sag ich, da sind Gene drin, nicht ganz so viele wie bei Ihnen, aber möchte schon sein, denn in jeder Zelle da, die Sie haben oder in jeder Zelle, die der Apfel hat, sind natürlich Erbinformationen hinterlegt."
Gemeint sind natürlich nicht Gene an sich, sondern bestimmte Züchtungsverfahren, die unter Verdacht stehen.
"Sonifikation konnte ich mir so in etwa, vom Wortstamm herleiten, dass es um Ton, es muss um Musik in irgendeiner Art und Weise gehen", sagt Steffan Haffke vom Bundessortenamt. "Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was daraus werden soll. Es klang erst einmal sehr spannend, aber auch völlig unwirklich für mich, weil es fernab von dem ist, womit wir täglich arbeiten. Als wir das erste Mal darüber gesprochen hatten, es ja eine ganz andere, eigene Art und Weise sein wird, das zu vertonen, oder in Musik, in Töne umzuwandeln. Dahingehend scheint es völlig gelungen zu sein, auch wenn ich, wie gesagt, keine Vorstellung hatte, was sich vielleicht hätte entwickeln können oder was jetzt daraus geworden ist. Es war für mich nur immer die Überlegung: Wie kann ich mir das wirklich vorstellen? Wie versuche ich auf der einen Seite vielleicht den Ertrag oder eine Resistenz oder auch eine Fleischfarbe bei der Kartoffel – wie soll das klingen?"

Die meisten Kartoffeln tragen Frauennamen

Und? Wie klingt das nun? "Anders, oder unerwartet. Das sind die ersten beiden Wörter, die vielleicht so in meinem Kopf herumspuken."
Kartoffeln bieten einen entschiedenen Vorteil, wenn es darum geht, ins Gespräch zu kommen: Wir können sie – anders als Weizensorten – beim Namen nennen. Sie heißen Linda, Lilly oder Belana.
"In der Mehrheit sind es aber Frauennamen", sagt Steffan Haffke. "Mir ist gerade kein Männername bei einer Kartoffelsorte bekannt. Das sind, soweit ich weiß, alles Frauennamen. Dem Züchter liegt es zwar Züchter frei und vielleicht verkauft sich eine Linda besser als ein Helmut."

Nicht jede Sorte kommt als Knolle in den Handel

Und bevor Lilly oder Linda in unserem Einkaufswagen landet, prüfen wir, was für Eigenschaften sie hat: Ist Linda mehligkochend? Belana festkochend? Die Kartoffel ist aber mehr als eine beliebte Beilage: Denken wir nur - ein paar Regale weiter - an die Tüten Kartoffelchips: ganz andere Sorten, ganz andere Herausforderung, was die Züchtung betrifft.
"Manche Sorten werden wir, wenn wir als Endkonsument im Supermarkt stehen, nie sehen", erklärt Steffan Haffke. "Weil sie dann speziell für Stärkeproduktion verwendet werden, speziell für Chipsproduktion und Pommesproduktion und so weiter. Die werden wir natürlich auch in irgendeiner Art und Weise essen. Aber dass wir die Knolle mal bewusst im Markt in der Hand halten, ist sehr unwahrscheinlich."
Kartoffelsorten werden heute in vier Reifegruppen unterteilt: Sehr früh, früh, mittelfrüh und mittelspät bis spät. In Abhängigkeit von der Vegetationszeit, die zwischen 90 und 160 Tage betragen kann.
Dass wir heute frische Kartoffeln zum Spargel haben, ist Ergebnis züchterischer Intervention. Als die Kartoffel im 16. Jahrhundert aus Südamerika zu uns kam, war sie an die kurzen Tage ihrer äquatornahen Herkunftsländer angepasst.
Genetisch betrachtet sind solche Veränderungen höchst voraussetzungsreich: Kartoffeln haben vier Kopien ihres Genoms und die sind alle unterschiedlich. Und sie klingen auch unterschiedlich. Auch darum geht es in diesem Projekt.

Die Kartoffel erwacht zum sonischen Leben

In einem kleinen Studio unter dem Dach der Berliner Universität der Künste, der UdK, in der Grunewaldstraße hocken derweil die beiden Klangkünstler, Kathrin Hunze und Alberto de Campo zusammen. Ihre aufgeklappten Laptops stehen vor ihnen. Schallisoliert soll es hier sein. Die Tabellen mit Kartoffelnamen und Kartoffeleigenschaften werden sie zum sonischen Leben erwecken. Zum Klingen.
"Ich finde, die Kartoffel ist eine schwierige Pflanzen", sagt Kathrin Huntze. "Wenn man von unseren Daten ausgeht, ist die schwierig, dafür, dass man sie überall im Supermarkt bekommen kann."
Wie aber lassen sich nun diesen alten Bekannten Töne entlocken? "Erst einmal liest man ganz viele Tabellen und Tabellen mit Informationen und diese Tabellen kann man eigentlich lesen wie ein Buch."
Aus einer Vielzahl möglicher Geschichten, schält sich Schritt für Schritt eine sich überlagernde Geschichten heraus, erzählt Kathrin Hunze:
"Was ich sehr interessant fand, war, wie die Kartoffel gepflanzt wird, zu welcher Jahreszeit. Das war super interessant, weil es Frühkartoffeln gibt, sehr frühe Kartoffeln. Das ist ganz interessant zu schauen, in welchen Rhythmen die Kartoffeln gepflanzt werden. Ich habe mir die Daten vom Bundessortenamt angeschaut und habe das dann mit Alberto mal nachgerechnet. Diese Zahlen kann man umsetzen in Töne, oder die Töne diesen Zahlen zuordnen. Das war eine spannende Sache, mit diesen Tabellen zu arbeiten."
"Die schauen wir zuerst an und versuchen, aufgrund der Geschichten, die wir besprochen haben, die in den Daten soweit nachzuvollziehen, dass wir sehen, was wir damit klanglich machen können", ergänzt Alberto de Campo.
"Wir experimentieren damit und schauen, ob sich die Geschichten tatsächlich entwickeln lassen oder wie weit das funktioniert, wo man auf welche Hindernisse stößt, wo man Wege um die Hindernisse herum findet. Oder wo man auch auf andere Verzweigungen kommt, die vielleicht interessanter sind als die, mit denen man ursprünglich begonnen hat.
Für mich war die unbeabsichtigte Entdeckung nebenbei, dass es eine sehr interessante kulturelle Kreativität bei der Entwicklung dieser ganzen Namen, dieser ganzen Sorten gibt. Es gibt offensichtlich Firmen, die italienische Komponisten lieben und wo die Kartoffeln dann Verdi, Rossini und Puccini heißen.
Es gibt offensichtlich das gleiche Problem wie Namen von Stadtvierteln. Man saugt sich irgendein Konzept aus den Fingern, wie die alle heißen und zieht es dann durch, koste es, was es wolle. Das ist eigentlich ein total lustiger Nebeneffekt, der fast interessanter ist als die Überlegung, welche Reifezeiten sind bei welchen Kartoffelsorten. Das war eine Verzweigung, die vorher nicht abzusehen war."

Was lässt sich mit Daten erzählen?

Im Akt der Sonifizierung werden also Daten in Klänge überführt. Daten an sich allerdings klingen ja nicht, sondern man muss ihnen Klänge zuweisen und darin besteht natürlich der entscheidende gestalterische Akt, der Fenster öffnet oder schließt, um Gedanken und Assoziationen zu ermöglichen.
"Es kann sein, dass man Lieblingsklänge hat oder einen bestimmten Platz an dem man beginnt, Töne zu nehmen", erzählt Alberto de Campo. "Wobei ich glaube, die Geschichten, die es jetzt geworden sind, sind schon auch alle das Ergebnis von Diffusionsprozessen der ganzen Gruppe, die sich getroffen hat. Da kriegt man ganz schwer auseinander, wer uns auf welche Spur und welche Seitenverzweigung gebracht hat, wer das dann als erster bemerkt hat und warum es dann dort weitergegangen ist. Es ist wie in einem interessanten Gespräch."
Es geht also nicht nur darum, welche Daten verfügbar sind und wie sie sich vertonen lassen. Sondern auch darum: Was lässt sich mit ihnen erzählen? Das war fortwährendes Thema der interdisziplinären Gruppe, die mit Tönen über Pflanzen kommunizieren. Solche Gespräche erzeugen im besten Falle stimmfreudige Resonanzen.

Der Gencode - länger als die Bibel

Wie daraus Wohlklang wird? Was hört sich gut an? "Das hängt von den Daten ab, die man hören möchte", antwortet Katrin Hunze.

Hören Sie hier im Livestream den vertonten Gencode der Arabidopsis. Doch Vorsicht: Der Stream dauert 195 Tage.Audio Player

Stehen die Kartoffeln für sich überlagernde Geschichten - Merkmale und Sortennamen, eine Geschichte der Sortenvielfalt - funktioniert das Beispiel Arabidopsis anders:
"Die Informationsebene ist ja so Low-Level, dass das alles eigentlich wie Rauschen klingt", sagt Alberto de Campo. "Dann verwenden wir es als genau das und versuchen eher, den Leuten didaktisch ein Gefühl für die Größenvergleiche zu vermitteln. Das dauert jetzt ein halbes Jahr, wenn sie jedes davon hören wollen. Würde man im Vergleich dazu die komplette Bibel sonifizieren, würde das lediglich eineinhalb Monate dauern. Wenn man die gesammelten Werke von Shakespeare sonifiziert, dann dauert es vielleicht zwei Monate."

Der souveräne Kunde

Nun wären weder die Kartoffel noch die Arabidposis jemals hörbar geworden, wenn Wissenschaft und Kunst ihr nicht gemeinsam Töne entlockt hätten.
"Bei mir persönlich, war es vielleicht nicht der eine irritierende Moment. Es hat bei mir sehr lange gedauert, bis ich ein Bild davon hatte, was denn jetzt dabei rauskommen soll", sagt der Pflanzenphysiologe Mathias Arlt. "Diese Zeit war schon spannend und ich habe mich auch gefragt, ob das so klappt, oder ob das funktionieren kann. Deshalb bin ich auch so froh über das, was da jetzt rausgekommen ist."
Zumal was auf dem Papier leichtfüßig daherkommt, in der Praxis allerdings nicht ohne Fallstricke ist.
"Wenn das Publikum lernt, dass es sich selber zutrauen kann, dass es komplexe Dinge zumindest ansatzsweise schnell verstehen kann", erklärt Alberto de Campo, "dann fühlen sich die Leute vielleicht auch eher berechtigt, sich in die Sachen auch tatsächlich einzumischen. Und tatsächlich demokratisch daran teilzunehmen, was gerade zu auch so komplizierten technologischen Themen verhandelt wird. Ich glaube, da sind ziemlich viele Leute ziemlich eingeschüchtert. Es wird auch ziemlich viel Macht darüber ausgeübt, dass man Leuten vermittelt, sie haben keine Ahnung davon, worum es hier wirklich geht und überlassen wir das doch den Experten, die alle weiße Mäntel tragen. Und dass das eine gesellschaftliche Falle ist, die auch tatsächlich verdammt gefährlich ist, darüber brauchen wir uns nicht streiten, glaube ich."

Der Sound der Arabidobsis findet Anklang

Endlich seht er da im März 2019: Der Supermarkt im Naturkundemuseum Berlin. Hier sind Besuchende eingeladen, anhand von Produkten, die wir alle von unseren Einkaufstouren kennen, hinter die Fassaden des Themas Pflanzenzüchtung zu schauen und Einblicke etwa in die Geschichte der Züchtung oder die Sortenvielfalt zu erhalten. Entlang poppiger Farben, Texttafeln, Vitrinen, Erklärungen und Grafiken sind aber nicht nur Geschichten sichtbar. Hier sind die Ergebnisse der Sonifikation zu hören.
Anstelle bekannter weichspülender Musik empfängt hier der Sound der Arabidobsis die Supermarktkunden. Kartoffel und Weizen können an Hörstationen unter dem Kopfhörer gehört werden. Auf Kartoffelsäcken nehmen nun Frauen und Männer Platz, um, ja: der Kartoffel zuzuhören.
Reaktionen gibt es zahlreiche: "Es war in erster Linie lustig", "schwer zu beschreiben" und "angenehm eigentlich". "Das ist ein cooles Gadget, mit dem man junge Leute ein bisschen kriegen kann." Manche waren "verwirrt", weil sie anderes erwartet hätten, bis sie allmählich verstanden haben, dass es darum ging, "einfach so ein bisschen das Gefühl zu haben, dass man bestimmte Dinge – in diesem Fall Kartoffeln – vertonen kann." Auch "interessant" finden das Projekt einige.
Und was hat das mit dem heutigen Abendessen zu tun? "Vielleicht, dass man mal wieder eine andere Kartoffelsorte ausprobiere, als die klassische Linda, die man so kennt."

Vom Klangerlebnis zum Diskurs

Der Griff zur neuen Pflanzen- oder Obstsorte ist eigentlich die Oberfläche, unter der der ständige Einfluss des Menschen auf seine Nutzpflanzen deutlich wird. Denn neue Sorten entstehen nur durch Zucht. Welche halten wir für natürlich, welche für unnatürlich? Darüber ins Gespräch zu kommen, - auch welche Mittel wir für zulässig halten, was wir uns in Hinblick auf unser Verständnis von Natur und Natürlichkeit wünschen - ist notwendig. Gerade in Zeiten, in denen neueste Verfahren auf genetischer Basis große Veränderungen prophezeien.
Um ein entsprechendes Gespräch zu beginnen, braucht es auch unterschiedliche Anstöße. Klang, das zeigt sich hier, bietet im Vergleich zur konventionellen Erzählweise einen überraschend anderen Zugang. Einen sinnlichen. Einen der eine Erweiterung ist, der die verschiedenen Aspekte der Pflanzenzucht in Beziehung setzt. Das ist wichtig.
Erst wenn wir uns auskennen, wirklich auskennen, können wir entscheiden, was wir kaufen und was nicht.

ErbUndGut
Installation im Berliner Museum für Naturkunde
noch bis 15. Mai 2019
weitere Informationen online
Tipp: Auf der Seite pflanzenforschung.de von PLANT 2030 und Dialog-GEA sind die Klangkunstarbeiten hörbar und Hintergrundinformationen als "plantainment" verfügbar.

(leicht bearbeitete Onlineversion, thg)
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