Klangfülle vor Alpenpanorama

Von Jörn Florian Fuchs · 17.09.2007
Vor malerischer Kulisse endete am Sonntag das Lucerne Festival 2007 mit Bruckners Achter. Pierre Boulez bot mit der Lucerne Festival Academy ein Repertoire vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu Stockhausen. Unter Boulez kam hier auch das Violinkonzert "Seven" des Composers in Residence, Peter Eötvös, zur Aufführung.
Das gibt es so wohl kein zweites Mal. Morgens mit einer halsbrecherisch wackligen Zahnradbahn auf 3000 Meter Höhe, mittags im Wortsinn atemberaubende Wanderungen entlang von Schluchten und schroffen Felsformationen, nachmittags mit dem Schiff zu Richard Wagners Exilidyll nach Tribschen und abends Bruckners Achte im akustisch wie architektonisch überwältigenden Luzerner Kultur- und Kongresszentrum KKL. Die eben noch erlebte Höhensonne über Alpengipfeln scheint gleich weiter und beleuchtet das mächtige Klanggebirge, eine streckenweise fast gewalttätige Ode an die Schöpfung, denkbar nur von einem Urheber, der selbst dem Steinigen, Brüchigen und zuweilen durchaus Gefährlichen der Natur nahe stand.

Seit einigen Jahren besitzt Bernard Haitink eine Villa mit angebautem Konzertsaal in Kastanienbaum nahe Luzern, vermutlich nimmt er öfters die kurze, wunderschöne Strecke über den Vierwaldstättersee bis zum KKL und lässt sich vom Blick auf das Bergpanorama inspirieren. Das Schiff hält praktischerweise unmittelbar vor dem Haupteingang.

Äußerst dynamisch, dabei völlig unpathetisch dirigiert der fast Achtzigjährige die achtzigminütige Meditation des komponierenden Naturmystikers und Organisten aus St. Florian. Mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchester steht ein Klangkörper zur Verfügung, dem die ungewohnte Gebirgsluft hörbar gut tut. Es gelingt die perfekte Balance aus wuchtig-massiven Akkordballungen und zartesten tonalen Figuren.

Erfrischend unprätentiös auch der zweite Abend des glückhaften Doppels Haitink & Concertgebouw. Zügig, aber nicht zu schnell fließt das Parsifal-Vorspiel vorüber, unmerklich schließt sich ein sinnlich duftender Karfreitagszauber an, dann geht es in Claude Debussys "Trois Nocturnes" etwas wilder und dunkler zu. Auch Debussys selten gespielte "Six épigraphes antiques" (in der Orchesterfassung von Rudolf Escher) bringt Haitink aufs exquisiteste zum Leuchten.

Neben Bernard Haitink waren es einige weitere ältere Herren, die beim heurigen Lucerne Festival für das standen, was Festspiele ausmachen sollen: außergewöhnliche künstlerische Leistungen und ein festlicher, nicht alltäglicher (Programm)Charakter. Wie in den vergangenen Jahren stand und steht dabei vor allem der Name Pierre Boulez im Vordergrund. Die mit jungen Musikern besetzte Lucerne Festival Academy lernte und spielte unter Boulez ein Repertoire vom beginnenden 20. Jahrhundert über Stockhausens überkomplexe "Gruppen" bis hin zu allerneuesten Tönen.

Zahlreiche Uraufführungen wanderten durch die Konzerte, als Composer-in-Residence lud man Peter Eötvös ein, sein Violinkonzert "Seven" erblickte unter Boulez das Licht der Welt. Im auch in Luzern gespielten Stück "Atlantis" schafft Eötvös eine sinnliche Unterwasserwelt, mit Hilfe von aufwändiger Elektronik wird imaginiert, wie es in der versunkenen (Traum)Welt aussehen könnte. "Seven" ist nun eine Himmelsmusik, ein Requiem für die sieben Astronauten, die bei der Columbia-Katastrophe 2003 gestorben sind. Jedem der Toten widmet Eötvös eine Violinkadenz (herausragende Solistin: Akiko Suwanai), die versucht, den individuellen Charakteren gerecht zu werden. Was konzeptionell doch ein bisschen arg nach Hybris klingt, ist im Ergebnis ein mächtig flirrendes und schwirrendes Hörerlebnis, vor allem die sechs in den Rängen verteilten Streicher sorgen für berückende Momente.

Im selben Konzert widmete sich Boulez mit der Lucerne Festival Academy noch den ungarischen Altmeistern György Ligeti, György Kurtág sowie Bartóks "Wunderbarem Mandarin". Dieser tanzte unter Boulez' zackig-kurzen Handbewegungen besonders heftig und todestrunken.

Seit 2005 hat das Lucerne Festival eine eigene Schlagzeuggruppe, die alljährlich auch Kompositionsaufträge vergibt. Besonders prägnant war diesen Sommer Liza Lim mit "City of Falling Angels". Lim hat eine zart verspielte, zuweilen auch kräftig auftragende Partitur geschrieben, die den perfekten Perkussionisten spürbar Spaß machte.

Als Beitrag zur Musiktheatersparte des Lucerne Festival setzte sich der Choreograph und Regisseur Joachim Schlömer mit einer ungewöhnlichen Kombination auseinander: Barock meets Pop. In "A Clear View of Heaven" begegnen einander eine Popsängerin, eine Rockband mit jeder Menge Elektro-Power und mehrere Alte-Musik-Spezialisten (herausragend: Etienne Abelin und Giuliano Carmignola). Musik von Purcell, Monteverdi und Nicola Matteis wird "im Original" gespielt, elektroakustisch verfremdet oder überlagert.

Das Übermalen steht im Zentrum von Schlömers Interesse, kleine Spielszenen rund ums Musizieren sowie eine etwas weit hergeholte Rahmenhandlung - die Rekonstruktion der Sixtinischen Kapelle - vermischen sich zu einer recht assoziativen Dramaturgie. Videos mit Kinderfotos, Filmrissen und Fresken flimmern über große Leinwände, der Kapellen-Restaurator schwadroniert über das Leben und die Kunst, man rezitiert gern Dante.

Stimmig ist der Abend nicht immer, stimmungsvoll dagegen einiges, etwa die gemeinsame Gesangsdarbietung der norwegischen Liedermacherin Ane Brun und der Barocksängerin Marisa Martins. Hier verschmilzt "alte" E-Musik mit "neuer" U-Musik, und höre da: es ist kein trivialer Mischmasch, sondern eine kraftvolle Synthese - fast schon eine Symbiose.

Tipp: soeben ist bei EuroArts eine fünfteilige DVD-Box mit den Höhepunkten der letzten Festivaljahrgänge erschienen.