Klage voller Sehnsucht

25.01.2013
Der neue Roman des israelischen Schriftstellers David Grossmann ist beides: zorniges Aufbegehren und zartes Erinnerungslied. Mit "Aus der Zeit fallen" verarbeitet der Friedensaktivist den Verlust des eigenen Sohnes in den letzten Tagen des Libanonkriegs im August 2006.
Eine Frau und ein Mann sitzen in der Küche. Sie reden - miteinander und aneinander vorbei. Sind sich schmerzlich fern und zugleich untrennbar vereint durch die Trauer um den Tod des gemeinsamen Sohnes. Er müsse gehen, sagt der Mann, er müsse zu ihm, nach dort. Er redet sich in Rage, in Trance, spricht traumgleich - wie immer weiter versinkend im Schmerz und wie erwachend zugleich aus einem Albtraum. Er will handeln. Kann nicht länger warten. Er steht auf und geht. Erst sich selbst, dann das Haus und alsbald die Stadt sprechend und schweigend umkreisend.

Und so entfaltet sich ein Szenario, das sich liest wie eine antike Tragödie im modernen Gewand. Mal erzählt der Chronist der Stadt, mal redet der Mann, mal die Frau, mal all die anderen, die den Tod eines Kindes zu beklagen haben. Der Herzog, die Fischnetzflickerin, die Hebamme, der Schuster, der Zentaur. Ein Chor der Trauernden. Ein Trauerzug. Denn viele von ihnen schließen sich dem Gehenden an.

Der israelische Autor David Grossman, ein Chronist seiner Zeit und seines Landes - als politischer Essayist, Friedensaktivist und als grandioser Romancier - hat im August 2006 seinen Sohn Uri in den letzten Tagen des Libanonkrieges verloren. Im Nachwort des schmalen Bandes erzählt Grossmans Übersetzerin Anne Birkenhauer, der Autor habe dieses "Land der Verdammung", in dem man als Trauernder lebe, sprachlich so akribisch wie möglich erkunden wollen. Was er tut. Und sich dem Thema radikal ausliefert

Der hebräische Untertitel des Buches heißt: Erzählung für Stimmen. Es ist ein Klagelied und Sehnsuchtssang, ein zorniges Aufbegehren gegen den Tod, ein zartes Erinnerungslied an die verlorenen Kinder, es ist der aussichtslose, orphisch anmutende Versuch, die Toten zurückzuholen ins Leben. Gewiss auch, um selber wieder atmen zu können. Es sind die Fantasien der Lebenden über die toten Kinder. Die sie einsam und unglücklich wähnen. So wie sie selber einsam und unglücklich sind. Und sich verzehren nach ihnen und nach sich, denn sie können sich selber nicht mehr fühlen.

Wir tauchen ein in eine sprachmächtige Düsternis und Verlassenheit, in verschlingende Kreise der Hölle, der Sehnsucht und des Schmerzes, in mystische Erscheinungen, angesiedelt zwischen Trauerwahn und Wunschtraum.

Und doch berühren die dämonischen Bilder oft weniger als die einfachen, die leisen Sätze. In den qualvollen Wortkaskaden wird die Trauer zwar groß und kunstvoll beschworen – aber sie ist nicht mehr, man spürt sie nicht. Als habe die angestrengt fauchende Wortwut sie überwältigt.

Aber wenn einer der Trauernden, der Herzog sich fragt, "wie kann ich weitergehn in den September, und er bleibt im August zurück"; wenn die Frau klagt über den Schmerz der vergehenden Zeit, die ihre Stacheln in sie steche - dann verzagt man auch als Leser vor dem unstillbaren Leid.

Und doch gibt es Licht. Und als letzten Satz die peinvoll jauchzende Frage des dichtenden Zentaurs, ob es wohl möglich sei, dass er wirklich Worte für all das fand. Man ahnt den Schimmer der Befreiung. Und die Möglichkeit einer Zukunft, eines Lebens für die Trauernden.

Besprochen von Gabriele von Arnim

David Grossman: Aus der Zeit fallen
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Hanser Verlag, München 2013
128 Seiten, 16,90 Euro
Das Buch erscheint am kommenden Montag, den 28.1.2013.

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