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EU-Türkei-Gipfel
"Wir müssen uns nicht am Nasenring durch die Manege führen lassen"

Der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, hat von der EU und der Bundesregierung kritische Worte gegenüber der Türkei gefordert. "Wir sehen eine dramatische Wegentwicklung der Türkei von den politischen Grundwerten der EU", sagte der FDP-Politiker mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Pressefreiheit in der Türkei im DLF. Zur Lösung der Flüchtlingskrise sei Ankara aber ein bedeutender Partner.

Alexander Graf Lambsdorff im Gespräch mit Bettina Klein | 07.03.2016
    Alexander Graf Lambsdorff, stellvertretender EU-Parlamentspräsident
    Alexander Graf Lambsdorff, stellvertretender EU-Parlamentspräsident (AFP/Romeo Gacad)
    Lambsdorff sprach sich dafür aus, die Verhandlungen über die Flüchtlingskrise und die über einen möglichen Beitritt der Türkei zur EU voneinander zu trennen. "Die Verhandlungen werden auf beiden Seiten unehrlich geführt", sagte er. Es gebe keine Mehrheit für einen Beitritt der Türkei in der EU. Nötig sei vielmehr eine Agenda zur Zusammenarbeit für gemeinsame Interessen.
    Das Vorgehen gegen die türkische Zeitung "Zaman" kritisierte er scharf. Hier werde eine Zeitung mundtot gemacht. Die EU müsse deutlich machen, dass man so nicht gegenüber freien, legal erscheinenden Presseorganen handeln könne.

    Das Interview in voller Länge
    Bettina Klein: Am Telefon ist nun Alexander Graf Lambsdorff von der FDP. Er ist stellvertretender Präsident des Europaparlaments. Guten Morgen, Herr Lambsdorff.
    Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Frau Klein.
    Klein: Sie haben am Wochenende bereits scharfe Kritik geübt an der Erstürmung jener türkischen Oppositionszeitung in Istanbul und auch an der etwas zurückhaltenden Art der Kritik. Versucht die Bundesregierung nach Ihrer Meinung im Augenblick, die Unterstützung der Türkei in der Flüchtlingspolitik mit Schweigen zu erkaufen?
    Graf Lambsdorff: Ja, Frau Klein. So einfach ist das. Hier wird gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Nach Hürriyet, nach Cum Hürriyet ist mit Zaman jetzt eine weitere Zeitung mundtot gemacht worden. Die Gleichschaltung der Presse in der Türkei schreitet voran und natürlich muss man das kritisieren. Wir haben bei der Türkei einen Beitrittskandidaten - das haben wir gerade im Beitrag gehört -, der ja sogar noch verlangt, dass man die Beitrittsverhandlungen ausweitet. Aber ich glaube, auf der einen Seite pragmatische Zusammenarbeit mit einem Nachbarn ist das eine. Beitrittsverhandlungen auf Grundlage einer wertebasierten EU-Mitgliedschaft, das ist etwas völlig anderes. Man muss das kritisieren, was da in Ankara passiert ist.
    "Gute Miene zum bösen Spiel"
    Klein: Auf der anderen Seite hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière ja davor schon darauf hingewiesen, Deutschland sei nicht Schiedsrichter in Fragen der Moral, was wir ja, offen gestanden, gerne immer wieder sind, aber in dem Punkt jetzt gerade nicht. Das Argument zählt für Sie nicht?
    Graf Lambsdorff: Thomas de Maizière sollte vielleicht mal in die europäischen Verträge schauen. Wenn man Beitrittsverhandlungen führt, muss man das sogenannte politische Kriterium von Kopenhagen einhalten, und das heißt: Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und so weiter. Und wir sehen in den letzten Jahren eine dramatische Wegentwicklung der Türkei von den politischen Grundwerten der Europäischen Union. Insofern: Hier geht es nicht darum, dass Deutschland mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Gegend läuft. Es geht einfach darum, dass die Europäische Union deutlich macht, das geht nicht, man kann so nicht handeln gegenüber freien, legal erscheinenden Presseorganen. Genau das ist das Problem.
    Klein: Nun ist ja schon einiges vereinbart worden mit der Türkei im Vorfeld in diesem Aktionsplan. Nicht alles ist schon in Stein gemeißelt. Aber welches Risiko würde denn die Bundesregierung da eingehen, wenn sie sich mit zu starker Kritik möglicherweise die Kooperationswilligkeit der Türkei verscherzen würde?
    Graf Lambsdorff: Nun, ich habe es gerade gesagt, und das war auch Ihre erste Frage. Im Moment ist es so, dass wir die Türkei unbedingt für die Flüchtlingsfrage brauchen. Im Moment ist es so, dass die Bundesregierung gute Miene zum bösen Spiel machen muss. Das gilt für manche andere Europäer auch. Man hat sich von der Türkei in den letzten Jahren sehr viel gefallen lassen. Man hat nie die Konsequenzen gezogen. Wir haben als Freie Demokraten gesagt, es macht keinen Sinn, so zu tun, als ob ein Beitrittsprozess, der seit zehn Jahren stockt, der nicht vorankommt, tatsächlich die Zukunft ist. Was wir mit der Türkei brauchen ist - und das meine ich ganz pragmatisch, ganz positiv eigentlich -, wir brauchen eine Agenda für Zusammenarbeit auf Grundlage gemeinsamer Interessen. Das ist ehrlicher für beide Seiten. Dann verabschiedet man sich natürlich von der Beitrittsperspektive, aber man kommt zu einer Zusammenarbeit, die eine gewisse Ehrlichkeit hat und die hoffentlich auch Erfolg hat.
    "Wir haben eine objektive Interessen-Kongruenz"
    Klein: Herr Lambsdorff, das heißt, Sie kritisieren nicht nur diese Zurückhaltung der Bundesregierung, sondern Sie haben durchaus auch in der gegenwärtigen Situation Verständnis dafür?
    Graf Lambsdorff: Wir haben eine objektive Interessen-Kongruenz. Wir brauchen eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Das ist ja vollkommen klar. Die Bundeskanzlerin hat ja diese Woche bereits erklärt, die Politik des Durchwinkens müsse ein Ende haben. Damit hat sie sich im Grunde von ihrer Politik der grenzenlosen Einladungspolitik verabschiedet. Insofern ja, wir brauchen die Türkei, und natürlich ist es in einer solchen Situation nicht leicht, diese Dinge zu kritisieren. Aber ich finde, wenn die Bundesregierung das einfach mit Schweigen übergeht, was ein wichtiger Partner macht, der gleichzeitig die Eröffnung von Beitrittskapiteln verlangt, dann haben wir ein Problem. Man muss das voneinander trennen. Man muss die Beitrittsverhandlungen trennen von der pragmatischen Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise. Das ist Diplomatie, das ist Politik, das kann gelingen. Es gelingt uns bei Russland ja auch, in bestimmten Fragen das eine Problem vom anderen zu trennen. Das muss gegenüber der Türkei auch versucht werden.
    Klein: Kurz dazu noch. Die Türkei will ja aber gerade - das haben wir auch im Bericht von Thomas Bormann gehört - unter anderem noch mehr erreichen wie zum Beispiel eine Ausweitung der Verhandlungen. Da sagen Sie aber ganz klar, da soll jetzt die rote Karte gezeigt werden?
    Graf Lambsdorff: Richtig. Das ist der Teil des Pakets, den die Türken verlangen, bei dem man auch aus Brüssel heraus sagen muss, hier müssen wir uns nicht vorführen lassen. Wir müssen uns nicht am Nasenring durch die Manege führen lassen. Was die Türken eigentlich wirklich für ihre Menschen erreichen können ist etwas anderes, und dem stehe ich selber auch positiv gegenüber. Das sind Erleichterungen in der Visumsfrage. Es gibt zahllose Türkinnen und Türken, die bona fide, die immer wieder nach Europa kommen und immer wieder zurückreisen. Die müssen ständig und aufs Neue ein Visum beantragen. Hier könnte man ganz pragmatisch eine Erleichterung für die Menschen schaffen. Das wäre ein großer Pluspunkt für die türkische Regierung ihrer Bevölkerung gegenüber. Wenn man ihr da entgegenkäme, dann hätte man etwas, wo man - ich habe es eben gesagt - im Wege der pragmatischen Zusammenarbeit konkrete Fortschritte erzielen kann. Das ist aber etwas anderes, als die Beitrittsverhandlungen voranzutreiben.
    "Die Verhandlungen werden von beiden Seiten unehrlich geführt"
    Klein: Da kann man natürlich auch fragen, was war zuerst da. Andere argumentieren ja auch, gerade der in den letzten Jahren verzögerte Beitrittsprozess habe dazu geführt, das Land weiter von der EU und auch von europäischen Werten zu entfernen. Also trägt auch die EU einen Teil der Mitverantwortung?
    Graf Lambsdorff: Absolut richtig. Die Verhandlungen werden von beiden Seiten unehrlich geführt. Nach einigen Jahren von Reformen in der Türkei hat sich Präsident Erdogan von einem Reformprogramm verabschiedet. Auf der anderen Seite ist man in Ankara und Istanbul letztendlich darüber enttäuscht, dass die Europäische Union nicht ehrlich verhandelt. Wir wissen es genau: Es gibt keine Mehrheit für einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, schon gar nicht zu dieser jetzt schon überdehnten Europäischen Union, und insofern weiß man auch in Ankara, es wird einen Beitritt nicht geben. Insofern ist das ein auf beiden Seiten unehrlich geführter Prozess, für den ja auch Europa Verantwortung trägt. Deswegen: Die Umwandlung dieses Prozesses in eine Agenda, eine positive Agenda für realistische Zusammenarbeit, das ist das, was ansteht, nicht das sich gegenseitige Vorwürfe machen, wie wir es in den letzten zehn Jahren erlebt haben.
    Klein: Schauen wir noch auf das Treffen heute konkret. Die Erklärung zum Gipfel kursiert ja offenbar bereits seit gestern. Daraus geht hervor, dass die Balkan-Route, kurz gesagt, geschlossen wird. Können Sie das so bestätigen?
    Graf Lambsdorff: Ja. Der Entwurf enthält die Worte, dass die Balkan-Route jetzt geschlossen sei. Das ist ein Zitat aus diesem Dokument der Ratsschlussfolgerungen. Ich halte das für ein etwas gewagtes Dokument, eine gewagte Formulierung, weil die Frage, was ist mit den Ausweichrouten über Albanien, Montenegro, Bosnien, nicht beantwortet wird. Es ist auch nicht klar, was ist mit der Route über die Adria direkt nach Italien, wenn es einmal etwas ruhiger geworden ist, was das Wetter angeht. Dennoch, eines ist klar: Hier werden jetzt die Grenzen auf dem Westbalkan zugemacht. Man wird gleichzeitig versuchen, Griechenland zu helfen. Im Prinzip ist das auch richtig. Wenn wir sagen, dass wir unsere Binnengrenzen in Europa offen halten wollen, dann müssen wir unsere Außengrenzen besser schützen. Die griechisch-türkische Grenze steht im Fokus. Aber natürlich sind die Grenzen vom Westbalkan zur Europäischen Union auch Außengrenzen der Europäischen Union.
    "Jeder Staat hat ein Recht darauf, seine Außengrenzen zu schützen"
    Klein: Aber ist das auch der Anfang der Festung Europa, die sich ja manche wünschen und vor der andere wiederum sehr warnen?
    Graf Lambsdorff: Ich glaube, es ist so, dass jeder Staat - und das gilt in gewisser Weise dann auch für die Europäische Union - ein Recht darauf hat, seine Außengrenzen zu schützen. Ja es gibt sogar eine Pflicht dazu, das zu tun, wenn es einen unkontrollierten Zustrom von Migranten gibt. Das ist das, was Europa hier tun muss. Das ist das, was die Kanzlerin mit ihrer Entscheidung vom letzten September ausgesetzt, ausgehebelt hatte. Wir müssen zurückkehren zum Recht, denn ich glaube, eines ist wichtig: Die Menschen erwarten, dass hier rechtsstaatliche Lösungen gesucht werden. Dazu zählen Grenzkontrollen an den Außengrenzen, damit wir die Innengrenzen freihalten können. Ich halte das für besser, als die Menschen weiter zu verunsichern und den Extremisten in Deutschland und anderen Ländern in die Hände zu treiben. Es geht hier darum, dass wir rechtsstaatliche Maßnahmen ergreifen, statt den Rechtsruck zu ermöglichen.
    Klein: Wir verlagern damit allerdings das Problem nach außerhalb der Europäischen Union in die Türkei, und damit sind wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs. Das heißt, langfristig betrachtet ist es eigentlich eine Verschiebung und Verlagerung der Probleme?
    Graf Lambsdorff: Frau Klein, ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Natürlich ist das, worüber wir noch nicht gesprochen haben, wirklich entscheidend, nämlich die Bekämpfung der Fluchtursachen, und das heißt, die Arbeit mit Hochdruck an einer politischen Lösung für Syrien, die Befriedung, die Stabilisierung Syriens, die Ermöglichung eines Wiederaufbaus und die Ermöglichung der Rückkehr für die Menschen nach Syrien, denn das ist ja bei Kriegsflüchtlingen so, dass irgendwann eine Rückkehrpflicht entsteht, wenn es wieder besser geht. Das ist das Eigentliche, worum es geht. Bis dahin brauchen wir die Zusammenarbeit mit der Türkei. Bis dahin müssen wir die Grenzen auf dem Westbalkan, die Außengrenzen der Europäischen Union besser sichern und schließen. Ich glaube, das ist das, worauf es wirklich ankommt. In Syrien Frieden und Stabilität zu erreichen, so schwierig das auch ist, das muss das letztendliche Ziel europäischer Politik sein.
    Klein: Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des Europaparlaments, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Herr Lambsdorff, ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Graf Lambsdorff: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.