Kirchliches Projekt auf Rügen

Kaffee und Gott im Plattenbauviertel

Plattenbauten aus DDR-Zeiten im Neubaugebiet Rotensee der Stadt Bergen auf der Insel Rügen.
Plattenbauten aus DDR-Zeiten im Neubaugebiet Rotensee der Stadt Bergen auf der Insel Rügen. © picture alliance / dpa / Stefan Sauer / ZB
Von Josefine Janert · 23.07.2017
Auch auf Urlaubsinseln wie Rügen gibt es Elend und seelische Not - etwa im Plattenbezirk Rotensee. Das evangelische Projekt "Nebenan in der Platte" will mit seinem mobilen Straßencafé Raum schaffen, über Alltagssorgen zu sprechen - und damit auch kirchenferne Menschen erreichen.
Lydia Böttger: "Also ich hab meinen Kaffee angesetzt schon mal und eine Kanne gekocht. Jetzt kocht grade schon die zweite, weil, wenn die Leute kommen, dann wollen die meistens sofort Kaffee, und wenn der erst durchlaufen muss, dauert das ja 'ne Viertelstunde."
Mittwochmorgen, kurz nach acht Uhr. Lydia Böttger hantiert in der Küche ihrer Plattenbauwohnung. Sie ist 33 Jahre alt, stammt aus Sachsen und hat in der Schweiz Theologie studiert. Vor zwei Jahren ist sie nach Mecklenburg-Vorpommern gezogen, in die Stadt Bergen auf der Insel Rügen.
"Ich muss noch Wasser aus dem Keller holen und Milch und Zucker und so weiter. Das haben wir alles schon in der Kiste."
Wie an jedem Mittwoch bereitet Lydia Böttger ein Straßencafé vor. Eingeladen sind die Einwohner von Rotensee, einem Plattenbauviertel in Bergen mit knapp 3000 Einwohnern. Viele von ihnen leben in ärmlichen Verhältnissen. Tourismus, Verwaltung, Verkehr und fischverarbeitende Industrie sind wichtige Arbeitgeber in der Region. Doch für so einen Job müssen die Menschen von Bergen, das mitten auf der Insel liegt, an die Küste oder aufs Festland pendeln. Das schafft nicht jeder, und viele Arbeitgeber suchen auch nur Teilzeitkräfte.
Auch Lydia Böttger wohnt in Rotensee. Das ist Teil ihres Jobs. Sie ist zusammen mit einem Kollegen hauptberuflich für das Projekt "Nebenan in der Platte" tätig, das 2007 von der Evangelischen Kirchengemeinde Bergen gegründet wurde. Finanziert wird es durch Spenden aus ganz Deutschland.
"Also wir sind hier 'ne Fresh X. Genau, das ist ein englischer Begriff, steht für fresh expressions of church und ist 'ne Bewegung, die in der anglikanischen Kirche begonnen hat. Wo man sozusagen nach Wegen sucht, wie Leute, die kirchenfern sind und die, ja fern von Religion und von Glauben überhaupt sind, wie die Glauben leben können. Weil oft kommen die mit der verfassten Kirche nicht zurecht und können da nicht anknüpfen. Hier wollen sie mit Kirche und Glauben nichts wissen. Also das ist, durch die DDR auch gibt's ganz viele Vorurteile, und da ist erst mal gar kein Vertrauen da. Die Leute könnten ja nicht mal mit ihrer Familie über dieses Thema reden, weil das ein Tabuthema ist. Und wenn hier Leute irgendwie zum Glauben finden oder sich dafür interessieren, dann gucken die Verwandten ziemlich komisch. Deswegen sind wir vielleicht auch da, dass sie mal mit uns reden können."

Gespräche über Sorgen und Freuden

Vor dem Haus von Lydia Böttger steht ein kleines Feuerwehrauto, ein Mercedes Benz LF 408 aus dem Jahr 1975. Einst fuhr es durch Süddeutschland. Dank der Unterstützung durch die christliche Johannes-Bugenhagen-Stiftung konnte das "Nebenan"-Team es 2011 kaufen. Inzwischen ist es so umgebaut, dass Lydia Böttger jetzt die Ausrüstung für das Straßencafé darin unterbringen kann.
"So 'ne Feuerwehr ist halt markant. Da wissen die Leute: Ah, okay, das Nebenan-Team kommt."
Im Schritttempo steuert Böttger das Auto zu einem zentralen Platz in Rotensee und parkt es neben einem Billiggeschäft für Textilien. Sie schließt ein Stromkabel an, packt Pappbecher, Milch und Zucker aus und setzt Wasser für Cappuccino und Tee auf. Noch während sie die Stehtische aufstellt, kommen die ersten Stammgäste. Viele von ihnen tragen Jogginghosen. Lydia Böttger kennt fast alle mit Namen. Man kommt schnell ins Gespräch – über den Alltag, Sorgen und Freuden.
Die 48-jährige Karin wohnt mit ihrem Verlobten und ihrem Schwiegervater ganz in der Nähe. Zu DDR-Zeiten arbeitete sie in einer Pelztierzucht.
"Wir hatten so 'n kleinen Streichelzoo, also wo die von auswärts so kommen konnten: Wie das gemacht wird, und wie wir die füttern und alles so erklärt. Hab' also von '84 bis '86 hab ich gelernt und dann hab ich bis '91 da gearbeitet, und dann wurde das zugemacht, weil: Naturschutz, hier, die Grünen, Umwelt – die wollten das nicht mehr! Und dann musste ich gehen. Und dann habe ich ABM zwischendurch gemacht, hier Sträucher schneiden, so was alles!"
Wegen einer Erkrankung erhält Karin seit zwei Jahren eine Rente. Schon seit vier Jahren kommt sie regelmäßig in das Straßencafé und auch zu dem Hauskreis, den das "Nebenan in der Platte"-Team organisiert. Im Unterschied zu vielen anderen hier in Rotensee glaubt Karin auch an Gott:
"Also, wenn man da in Not ist, dass er einem hilft. Wenn man dran glaubt. Man muss eben dran glauben. Das ist die Voraussetzung."

"Das bringt mir auch Kraft"

Auch der 80-jährige Eduard ist Stammgast und trinkt gerne mit Lydia Böttger seinen Kaffee. Doch was Religion anbelangt, bleibt er auf Distanz. Das liegt auch daran, dass er schon zu DDR-Zeiten keine Kirchensteuer zahlen wollte.
"Nee, ich glaub' nicht an Gott! Passen Se mal auf: Ich bin aber getauft, ich bin eingesegnet und alles. Wir haben zwei Kinder gehabt, und dann kamen diese Geldeintreiber von der Kirche in Grimmen, ich hab ja in Grimmen gewohnt, und wollten pfänden. Ich sag': Ich geh aus der Kirche raus, sag' ich. '64 schon aus der Kirche schon raus. Alles, was ich nicht sehen tu, glaube ich nicht. Ich muss es sehen! Ich muss es sehen!"
Drei Stunden dauert das Straßencafé. Es wird sommers wie winters bei fast jedem Wetter angeboten. Manchmal stehen fünf Menschen an den Stehtischen, manchmal zehn oder 15. Möglich ist das Café auch dank der Ehrenamtlichen, die sich bei "Nebenan in der Platte" engagieren. Eine von ihnen ist Heidi, die als Putzfrau in den Touristenorten tätig ist. Sie organisiert auch den Hauskreis:
"Wir lesen mit den älteren Herrschaften hier in Rotensee die Bibel. Wir versuchen immer Möglichkeiten zu finden, dass es auch leicht verständlich ist. Dazu singen wir dann noch – zum Beginn und zum Abschluss dann auch noch mal. Und dann beten wir noch, einmal vor dem Lesen, einmal nach dem Lesen."
Frau: "Mir macht das Spaß, mit euch zu machen."
Heidi: "Das ist schön, das freut mich. Das freut auch Lydia."
Frau: "Ich bin alleine. Und das bringt mir auch Kraft."
Mehr zum Thema