"Kirche muss auch offensiver werden"

Moderation: Herbert A. Gornik · 10.11.2007
Die EKD-Synodale Kerstin Griese hat von der Kirche ein stärkeres Engagement gefordert, um die Bevölkerung anzusprechen. "Die Menschen kommen nicht von alleine, die Kirche kann nicht abwarten", sagte Griese.
Herbert A. Gornik: Kerstin Griese ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur in der Sendungen "Religionen". Sie ist von der EKD berufene Synodale und Mitglied des Deutschen Bundestages und Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften. Kerstin Griese, die Evangelische Kirche in Deutschland will, wenn es nach dem Schwerpunktthema geht, evangelisch Kirche sein. Wie geht das?

Kerstin Griese: Ich glaube, das ist ein kraftvoller Ausdruck dafür, dass wir definieren, warum wir evangelisch sind, warum wir gerne evangelisch sind – ich bin es zumindest gerne – und was für uns evangelische Kirche ausmacht. Das beginnt bei den ganz persönlichen Erfahrungen im Kindergottesdienst, in der Jugendarbeit. Das geht über die Gemeinschaft, die man in der Gemeinde erlebt, und das geht aber auch darüber hinaus über das Aufgehobensein im Glauben, über das grundsätzliche Angenommensein durch den Glauben, das uns als evangelische Kirche trägt. Mir persönlich ganz wichtig ist auch, dass evangelische Kirche handelt, dass sie in der Welt ist, nicht weltfremd ist, dass sie mitten im Leben steht, mit beiden Beinen im Leben steht und sich auch da zu grundsätzlichen Fragen äußert.

Gornik: Die evangelische Kirche hat vor einem Jahr ein Impulspapier vorgelegt. Da werden die Amtshandlungen als Lackmustest bezeichnet, ein Lackmustest für die Akzeptanz in der Gesellschaft. Diese Akzeptanz sieht gar nicht so gut aus. Zwischen 1991 und 2003 hat es 25 Prozent weniger Taufen gegeben, die Trauungen haben sich halbiert und die Beerdigungen sind um 17 Prozent zurückgegangen. Was ist da passiert, um Himmels Willen?

Griese: Ich glaube, der evangelischen Kirche geht es so wie vielen anderen auch, auch Parteien, auch Gewerkschaften, großen Organisationen und Institutionen, dass immer weniger Menschen dort Mitglied werden, Mitglied bleiben. Wir haben ja auch Austritte in all diesen Bereichen. Und deshalb muss evangelische Kirche, wie andere auch, ein bisschen kämpfen, muss Profil zeigen, profiliert sein, damit Menschen gerne Mitglied der evangelischen Kirche sind. Außerdem trifft uns natürlich der demografische Wandel. Wir alle, wir werden immer weniger, schon allein aufgrund der Bevölkerungsentwicklung. Wir wissen, dass wir bis 2030 etwa ein Drittel weniger Protestantinnen und Protestanten in Deutschland haben werden. Ich finde es gut, dass evangelische Kirche nicht sagt, lassen wir das mal auf uns zukommen, schauen wir mal, sondern jetzt sagt, wir müssen diesen Prozess gestalten. Denn wenn wir ihn nicht gestalten, werden wir davon überrollt. Damit zusammenhängt ja, dass die evangelische Kirche weniger Geld haben wird, das heißt auch, dass wir uns erst mal selbst fragen müssen, was sind unsere Profile, was sind unsere wichtigsten Aufgaben und wie wollen wir in Zukunft evangelisch Kirche sein.

Gornik: Jetzt sagen wir mal konkret, was es heißt, Profil zu zeigen. Da ist jemand, der hat ein Enkelkind oder da gibt es ein kleines Kind in der Familie, das soll jetzt getauft werden. Warum ist es schön, getauft zu werden? Warum ist es gut, sich trauen zu lassen von einem Pfarrer?

Griese: Für mich ganz wichtig ist, dass man in der Gemeinschaft der evangelischen Kirche ist, dass man gemeinsam mit anderen Glauben praktizieren und leben kann. Der Mensch lebt nicht für sich selbst allein, sondern er braucht diese Bezüge zu anderen Menschen und zu Gott. Diese Gemeinschaft ist wichtig. Das Zweite, was ich wichtig finde, sind die Werte. Gerade mit der Taufe bekunden wir, dass wir ein Kind im christlichen Glauben erziehen wollen, aufziehen wollen. Das heißt eben – das geht mir auch als Politikerin so –, das sind grundsätzliche Werte, das ist wie ein Fundament in meinem Leben, von dem heraus jeder natürlich häufig auch zu verschiedenen Entscheidungen kommen kann, aber es ist so etwas wie eine Richtschnur, ein Leitfaden, der auch trägt, auch in schwierigen Situationen des Lebens. Das finde ich wichtig. Mich hat im Zusammenhang dieser Diskussion um Kirche der Freiheit, um die Zukunft unserer evangelischen Kirche ein ganz kleines praktisches Beispiel sehr begeistert. Eine Gemeinde hat einmal alle Kinder angeschrieben bzw. deren Eltern eines Jahrgangs, die sich nicht haben taufen lassen und hat sie einfach eingeladen, sich taufen zu lassen und hat eine ungeheuer hohe Zahl an Rückmeldungen bekommen, eine viel höhere Zahl an Kindern, die getauft wurden in diesem Jahr. Und dieses praktische Beispiel, was mich so begeistert hat, zeigt mir, Kirche muss auch offensiver werden, muss auf die Menschen zugehen. Die Menschen kommen nicht von alleine, die Kirche kann nicht abwarten, sondern wir müssen unser Profil auch stärker in die Welt tragen und die Menschen ansprechen.

Gornik: Wir sprechen mit dem Mitglied der Synode der EKD, Kerstin Griese, im Deutschlandradio Kultur in der Sendung "Religionen". Wenden wir es noch mal um: Sie haben eine langjährige Erfahrung in der evangelischen Jugendarbeit zwischen 1979 und 1989 im Rheinland in Düsseldorf. Wenn Sie sehen, dass viele getauft sind, aber die Hälfte dann sich nicht mehr trauen lässt, dann muss doch etwas dazwischen passiert sein, wo die Kirche, wo die Gemeinden jetzt einhaken könnten. Wie kann man sozusagen die Getauften bei der Stange halten? Wie kann man sie weiter an sich binden, an die Kirche, ihnen das Gefühl zu vermitteln, da muss ich dabei bleiben?

Griese: Ich habe es selbst ja ganz positiv erlebt durch Kinder- und Jugendarbeit in meiner Gemeinde. Eigentlich muss ich selber sagen, dass meine politische Sozialisation, meine Prägung fürs Leben, das, warum ich mich sozial engagiere, dadurch entstanden ist, dass ich es in der evangelischen Jugendarbeit gemeinsam mit anderen gelernt habe, dass ich gelernt habe, was es heißt, für die Schwächeren einzustehen, dass ich gelernt habe, was es heißt, gemeinsam nach Lösungen von Problemen zu suchen, auch sich durch die Strukturen durchzukämpfen in der evangelischen Kirche, Meinungen zu entwickeln, auch durchzusetzen. Und dieses Angebot halte ich für ganz wichtig. Deshalb glaube ich, dass einer der unabdingbaren Bereiche unserer Arbeit die Kinder- und Jugendarbeit ist. Viele Gemeinden sind ja auch eng verbunden mit ihren Kindergärten, und ich weiß, allein aus meiner Kirchengemeinde, dass das ganz wichtig ist, um die Kirchen voller zu haben, um Nachwuchs in den Kirchen zu haben. Und deshalb glaube ich, ist das ein ganz wichtiges Angebot: Profil zeigen, Heimat bieten, Kirche muss auch Heimat bieten, muss auch zeitgerechte Angebote machen, Jugendlichen auch ermöglichen, selber Gottesdienste zu gestalten zum Beispiel, selber Ideen einzubringen und einfach auch demokratisch Kirche sein. Also nicht etwas von oben herab vorzugeben, das wird auch die EKD nicht können im Reformprozess, sondern die Beteiligung, die Teilhabe ist ganz wichtig.

Gornik: Das liegt doch da aber für viele Leute genau ein Problem. Die sagen, Religion und Kirche, das ist so was wie Kindersache. Religion, das hat man in der Kinderstube des Denkens und dann muss man aber sich emanzipieren und erwachsen werden. Und da geht vielen der Glaube abhanden über die Zeit. Da ist nur noch die Erinnerung da, das war früher mal, aber heute als Erwachsener kann ich damit nichts anfangen. Wie haben Sie denn Ihren Kinderglauben erwachsen werden lassen?

Griese: Also für mich ist ganz wichtig eine gute Predigt, in der ich was lerne. Ich mag Gottesdienste, die schöne Musik haben, die eine gute Stimmung haben, aber ich brauche sozusagen das harte Brot, das Wort Gottes, was lernen über die Geschichte der Christenheit, über das, was diese Bibelstellen für heute sagen. Und das ist ja auch ein intellektueller Prozess, das ist auch was, was man dann mitnehmen kann fürs Leben. Das ist sicherlich ein Weg, wie man sagen kann, wie man auch als Erwachsener wieder neu zu seiner Kirche finden kann. Jeder von uns hat sicherlich Phasen im Leben – ich auch während des Studiums zum Beispiel – wo man nicht so eng verbandelt ist mit seiner Kirche, nicht so häufig präsent ist. Und ich entdecke das seit mehreren Jahren jetzt wieder, wie wichtig es mir ist. Ich will Ihnen ein zweites Beispiel sagen, was mich ganz fasziniert hat: Der Stadtteil in Deutschland, der mit die höchste Geburtenrate hat – Berlin Prenzlauer Berg –, ist auf einmal ein Stadtteil, in dem immer mehr Menschen in die Kirche gehen, weil sie merken, mit unseren Kindern ist das eine gute Idee, da werden wir angesprochen. Auf einmal, wenn sie Kinder haben, merken sie, es ist vielleicht doch wichtig, in die Kirche zu gehen, dort Bindungen zu entwickeln. Und auf einmal haben diese Kirchengemeinden einen ganz hohen Zulauf, während wir andere Kirchengemeinden haben, die fürchterlich darüber klagen können und müssen, dass sie kaum noch Mitglieder haben. Das heißt, es gibt da anscheinend einen Zusammenhang, dass auch gerade junge Eltern sehr ansprechbar sind.

Gornik: Wenn die evangelische Kirche in Deutschland in die Kinder- und Jugendarbeit investieren soll, so verstehe ich Sie, weil das zukunftssichernd ist, dann muss irgendetwas anderes weniger finanziert werden und weniger getan werden. Was ist eher verzichtbar?

Griese: Da fühle ich mich jetzt nicht befugt, den Haushaltsplan sozusagen umzustellen. Ich glaube schon, dass wir die ganz wichtigen Bereiche, zum Beispiel der diakonischen Arbeit, des weltlichen Handelns auch der Kirche, auch gerade des Eintretens für die Schwachen, also auch das, was wir im sozialen Bereich tun, dass wir das auf jeden Fall aufrechterhalten müssen, auch die ökumenische Zusammenarbeit in der einen Welt. Deshalb kann ich Ihnen jetzt keinen neuen Haushaltsplan der EKD aufstellen. Ich glaube einfach, dass auch in Gemeinden vor Ort eine Entscheidung wachsen kann, was ist unser eigenes Profil, was ist bei uns ein Schwerpunkt. Ich komme aus einer Kirchengemeinde, die gerade eine ganz tolle Jugendarbeit macht und gerade Jugendliche ganz tolle Dinge selber auf die Beine gestellt haben. Ich bin gerade auch noch geprägt vom Evangelischen Kirchentag in Köln, der ja auch eine große, nicht mehr nur eine Jugendbewegung, inzwischen ja auch eine Bewegung der Erwachsenen und Älteren ist.

Gornik: Da durften Sie predigen und sozusagen die theologische Arbeit machen?

Griese: Da durfte ich zum ersten Mal in meinem Leben predigen über das schöne Bibelzitat "Lebendig und kräftig und schärfer", also das Wort ist lebendig und kräftig und schärfer als ein zweischneidiges Schwert. Eine schwere Bibelstelle, habe ich viel dran gearbeitet. Aber das hat mir noch mal auch einen ganz neuen Bezug zu meiner Kirche und zur Bibel gebracht, wirklich mal die Arbeit zu machen, die ich mir sonst anhöre, nachzuforschen, was hat das eigentlich damals bedeutet, was bedeutet es heute für uns in dieser Medienwelt, wo so viele Worte auf uns einprasseln, gerade in der Medienstadt Köln, wo so viele Worte auf uns einprasseln, man vor lauter Talkshows schon gar nicht mehr kann, wie in der Politik ständig Worte hören, seien es hohle Phrasen oder auch mal sinnvolle Worte. Und es war eine irgendwie tröstliche Erkenntnis zu wissen, dass das Wort Gottes lebendig und kräftig und schärfer ist.

Gornik: Kerstin Griese war das, zu Gast im Deutschlandradio Kultur in der Sendung "Religionen". Herzlichen Dank!

Griese: Dankeschön!