Kirche findet Stadt

Von Thomas Klatt · 25.05.2013
Vor zwei Jahren begann das ökumenische Kooperationsprojekt "Kirche findet Stadt". An mehr als 120 Standorten sollte gezeigt werden, inwieweit kirchliche Arbeit positiv zur Stadtteilentwicklung beitragen kann. Jetzt ist das Projekt ausgelaufen - kirchenintern ist es umstritten.
Eine moderne Schul-Turnhalle am Rand der Südstadt von Neuruppin. Eine typische Plattenbausiedlung aus DDR-Zeiten. Der Verein ESTAruppin lädt hier jeden zweiten Samstag ab 15 Uhr Vorschulkinder und ihre Eltern zum Winterspielplatz ein. "ESTA" steht für "Einsetzen statt Aussetzen".

"Das Beste ist der Barren. Weil's Spaß macht."

"Über'n Schwebebalken balancieren."

Damit nichts passiert, steht an den Geräten ein Mann in einer Freizeitjacke, auf der ESTAruppin e.V. steht. Hinter dem Vereinsnamen verbirgt sich die "Gemeindediakonische Initiative der evangelischen Kirchengemeinden im Kirchenkreis Wittstock-Ruppin". Mit der Kirche selbst hat der Mitarbeiter Martin Dachselt allerdings nicht direkt etwas zu tun.

"Mitglied vom Verein, selbst nicht Mitglied von der Kirche. Weil ich da irgendwie nie den Bezug zu hatte. Brauchte ich auch noch nie. MAE-1€-Job. Spielmobil, wovon wir sind, mit ganz viel Spielzeug, fahren auf die Dörfer, bespaßen und kümmern uns um die Kinder. Hier kommen jetzt so 60 Kinder heute."

Der Eintritt ist kostenlos, es wird lediglich um Spenden gebeten. Dass das kostenfreie Angebot von der Kirche gemacht wird, ist den meisten Eltern hier gar nicht bewusst.

"Weil's uns einfach Spaß macht. Bewegung, Sport, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Dass das was mit Kirche zu tun hat, wissen Sie das? Nein. Wir sind jetzt schon das dritte Jahr hier und Mama aus Kindergarten hat das gesagt und es lohnt sich und ist schön. Die Eltern sind mit aufgefordert, die Spiele sind für Jung und Alt. Dass man mit dem Kind eine schöne Zeit verbringt. Das ist ESTA in Neuruppin und die haben auch einige andere Projekte und machen sich immer größer und immer breiter und haben positives Feedback, ne. Und wissen Sie wer dahinter steckt? Eigentlich nicht wirklich."

Seit 2005 schon gibt es ESTAruppin mit einem vielfältigen Angebot: Geburtsvorbereitungskurse, Jugendclub und Schulsozialarbeit, Migrationsberatung und Hilfe bei Behördengängen, interkulturelle Kochkurse, Gesundheitstreffs, Nachbarschaftshilfe, Lesungen und Konzerte, und vieles mehr. Dass das alles etwas mit Kirche zu tun hat, sieht man erst auf den zweiten Blick. Aber das sei eben das Konzept, sagt die zuständige Pfarrerin von Neuruppin, Christiane Schulz.

"Wir sind immer auch noch mal in einem Prozess mit unseren Kirchengemeinden am Ringen, die auch fragen, was ist an einem Winterspielplatz, was ist daran Kirche? Warum machen wir das überhaupt? Was ist daran Verkündigung, wie offen dürfen wir sein? Sollen wir uns nicht viel stärker auf die binnenkirchlichen Dinge konzentrieren? Meine Theologie: Kirche für andere! Wie schaffen wir es Menschen zu unterstützen, das eigene Leben in den Hand nehmen zu können? Da haben wir nen Auftrag, da können wir ne Menge leisten. Und das hat eben mit offenen Formen zu tun, dass wir Grenzen überschreiten. Das öffnet Türen. Warum macht die das als Christin?"

Nur zehn Geh-Minuten vom Indoorspielplatz entfernt liegt mitten im Plattenbaugebiet der Bauspielplatz für ältere Kinder und Jugendliche. Auch die pädagogische Mitarbeiterin Anne Köppe ist nicht Mitglied der Kirche, steht aber voll und ganz hinter den Ideen des diakonischen Vereins ESTAruppin.

"Wir haben hier schon Meerschweinchen gehabt. Wir haben auch eine Spielplatzkatze. Tierpädagogik ist ja auch eine schöne Sache, wo Kinder dann auch einen anderen Zugang kriegen. Jetzt geht bald die Gartensaison los, wir werden ernten, wir versuchen den Kreislauf der Erde mit den Kindern zu erleben. Hier finden ja regelmäßig Gottesdienste statt. Platz ist für alle offen, aber religiöse Sachen kommen immer mal wieder vor, gerade halt zu den Festen, das bietet sich ja an."

ESTAruppin ist eines von mehr als 30 evangelischen und katholischen Projekten, die an dem bundesweiten Pilotprojekt Kirche findet Stadt teilnehmen. In Konferenzen und Netzwerktreffen sucht man den Erfahrungsaustausch darüber, wie gerade Kirchengemeinden ein wichtiger Faktor für Bürgerbeteiligung und Stadtplanung sein können. Diese Fragestellung wurde bereits in den 1970er Jahren aufgeworfen, weiß Rolf Peter Löhr, ehemaliger Leiter des Deutschen Instituts für Urbanistik.

"In Städten wie Hamburg, Bremen, Gießen, Dortmund und vielen anderen Städten entwickelten sich Bewegungen von Bürgerinnen und Bürgern, die ihre Interessen in die Entwicklung ihres Wohngebietes einbringen wollten und umgesetzt sehen wollten. Ein besonderes Beispiel ist hierfür Berlin. Seit 1971 entwickelte sich hier in Kreuzberg eine besondere Herangehensweise und es war der evangelische Pfarrer Duntze, der mit seinen Kirchenräumen die räumlichen Bedingungen schaffte, dass eine Kommunikation zwischen Stadt und den Bürgern stattfinden konnte. Das war sozusagen der neutrale Boden, wo sich alle auf Augenhöhe begegnen konnten."

Diese damals bundesweit von sich Reden machende "Kreuzberger Mischung" war ein Ergebnis der friedlichen Neunutzung alter Häuser, auch mit kirchlicher Vermittlung. Es folgten Ende der 1990er Jahre das Bundesprogramm "Soziale Stadt" und die Einrichtung von Stadtteil-Quartiersmanagement-Standorten. Kirche mit ihren vielfältigen Kontakten zur Basis, vom Kindergarten bis zum Altenheim, kann auch weiterhin ein wichtiger Faktor in der Stadtplanung sein, meint Löhr.

"Im Grunde ist die soziale Stadt und diese Art des Ansatzes das Ergebnis einer erfolgreichen Bürgerbewegung. Hier hat Kirche Zugang zu Menschen, die sich von sich aus nicht ohne weiteres in einen Diskurs über Quartiersentwicklung einbringen würden, obwohl ihre Interessen hier besonders berührt sind."

Im Raum der Kirche können Bürger etwa ihre Bedürfnisse artikulieren und konkrete Forderungen an die Lokalpolitiker stellen. Der katholische Theologe Udo Schmälzle aus Münster weiß, dass Gemeinden dafür aber auch mehr Bürgernähe zeigen müssen. Menschen ermutigen, sich im Stadtteil zu engagieren, anstatt in das allgemeine Gejammere zu verfallen, man könne gegen "die da oben" ja doch nichts machen.

"Weg vom Fall- hin zum Raumprinzip. Weg von der Zentralisierung hin zur Regionalisierung. Weg von der Komm- hin zur Gehstruktur, weg von der Defizit- hin zur Ressourcenorientierung, weg vom Planstellenkarussell der Hauptamtlichkeit hin zu neuen Formen der Kooperation zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen... Wenn wirklich in diesem Paradigmenwechsel nicht Kinder, Jugendliche, alte Menschen, Pflegebedürftige, kinderreiche Familien, allein Erziehende, Arbeitslose und Hartz IV-Empfänger auf der Strecke bleiben sollen, dann müssen Kirchengemeinden und Caritas-Verbände neue Formen der Kooperation und Kommunikation entwickeln."

Stadtsoziologen sprechen vom Bürger-Profi-Mix. Doch längst nicht in allen Kirchengemeinden scheint das schon gut zu klappen.

"Von einem Pfarrer wurde mir mal entgegengeschrien voller Wut, Sie wollen aus mir einen Sozialarbeiter machen! Nur weil ich betont habe, die Diakonie ist genau so wichtig wie die Liturgie."

In Neuruppin jedenfalls scheint die Balance zwischen Kirche und Stadt zu funktionieren. Immerhin habe es durch die Beteiligung am "Kirche findet Stadt"-Prozess mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung durch die Lokalpolitik gegeben. Dass Kirche und Diakonie in die Kommune hineinwirken und für die Menschen da sind, ist für Pfarrerin Christiane Schulz selbstverständlich. Und sie hofft, dass dadurch vielleicht auch die Bewohner wieder ein neues Interesse an Kirche gewinnen.

"Wir haben relativ intensiv auch ne Elternarbeit, weil ganz viele Eltern mit ihren Kindern kommen. Wir hatten schon drei Taufen hier, wir haben auch schon Erwachsene getauft. Es gibt also Menschen, die sich über ESTAruppin auch ein Stück weit entwickeln – von der Arbeitslosigkeit, sich selbst anders kennen lernen… und über die Jahre gibt es schöne Erfolge."
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