Kino-Kolumne Top Five

Die fünf besten One-Shot-Filme

05:52 Minuten
Zu viele Männer hinter der Kamera: Die Initiative "Pro Quote Regie" fordert eine Quote für Regisseure.
Zu viele Männer hinter der Kamera: Die Initiative "Pro Quote Regie" fordert eine Quote für Regisseure. © dpa/picture alliance/Georg Wendt
Von Hartwig Tegeler · 22.09.2018
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Die Erzählung über das Massaker auf der Insel Utøya, bei dem ein Rechtsextremist innerhalb von 72 Minuten 69 Menschen ermordete, hat der Filmemacher Erik Poppe in einer Einstellung gedreht. Anlass genug, auf die großen "One Shot"-Filme der Filmgeschichte zu blicken.
Platz 5 – "Cocktail für eine Leiche" von Alfred Hitchcock (1948)
Zwei Studenten wollen die Theorie vom "perfekten Mord" beweisen, ihr Philosophielehrer - James Stewart - aber deckt den Mord an David auf. Ohne einen Schnitt inszenierte Hitchcock das Kammerspiel. Scheinbar! Denn in jenen vordigitalen Zeiten konnte eine Filmrolle nur 10 Minuten aufzeichnen. Also fährt die Kamera auf den Anzug einer Figur und beginnt nach dem Schnitt mit dem Zurückfahren. Verdeckter Cut! Wir nehmen's nicht wahr. Später nannte Hitchcock das Verfahren "idiotisch", wie hätte er den Schnitt als wesentliches ästhetisches Gestaltungsmittel eines Filmemachers aus der Hand geben können. Spätere Regisseure sahen eher die künstlerischen Möglichkeiten der Eine-Einstellung-Dramaturgie.
Platz 4 – "Russian Ark" von Alexander Sokurow (2002)
300 Jahre russische Geschichte in einem Take von 92 Minuten. Eine Kamerafahrt durch die Petersburger Eremitage, vorbei an zweitausend Komparsen in Kostümen. Aufgenommen auf einem 35 Kilo schweren Rekorder inklusive Akkus auf dem Rücken des Kameraassistenten, über Kabel verbunden mit der Steadycam des vor ihm laufenden Kameramannes. "Russian Ark" ist ein Fluss von Bildern, der die Vergangenheit und Gegenwart Russland zum Diskurs über russische Identität im Spannungsfeld von Ost und West bündelt.
Platz 3 – "Birdman" von Alejandro Gonzáles Iñárritu (2014)
Einst spielte er im Kino den Superhelden "Birdman", jetzt kämpft Riggan am Theater darum, seine Karriere wieder in Gang zu bringen. Allerdings nimmt der "Birdman" immer mehr Besitz von Riggans Innerem ein. "Birdman", der Film, folgt also der Logik eines Traums, in dem alles, jeglicher Orts-, jeglicher Realitätswechsel möglich ist, ohne sich um Logik zu scheren. Alles also kann in einem Fluss, einer Einstellung, geschehen. Trotzdem würde "Birdman" nicht so aus einem Guss wirken ohne den grandiosen Sound des Jazz-Drummers Antonio Sánchez. Auf den Tönen der Trommel quasi schlittert der "Birdman" auf seine Abgründe zu, um sich am Ende - vielleicht! - in die Luft zu erheben.
Michael Keaton als Riggan Thomson in einer Szene des Films "Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)" von Alejandro González Inárritu.
Michael Keaton als Riggan Thomson in einer Szene des Films "Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)" von Alejandro González Inárritu.© Twentieth Century Fox
Platz 2 – "Running Time" von Josh Becker (1997)
"Lassen Sie auf", sagt der Gefängnisdirektor zu Carl. Die Tür ist gemeint. Ein technisch hilfreicher Dialogsatz in der Anfangsszene. Denn als Carl kurz vor seiner Entlassung in dessen Büro geht, ist es praktisch, dass die Tür auf bleibt, weil Carl dann später ja wieder rausgeht und die Kamera ihm folgen muss. Denn: One shot! Und kein Schnitt. Und dann darf der Gefängnisdirektor sagen: "Machen Sie die Tür hinter sich zu." Als dann der Überfall in die Hose gegangen ist, wird die Kamera um die Protagonisten herumtanzen oder einmal 100 Meter zurückfahren und Carl auf der Straße, da, wo er steht mit blutigem Arm, zurücklassen. Denn irgendwie muss sie ja zum verräterischen Kumpel hin, da, am Zaun in der Hinterhofgasse. Die in einer 70 minütigen Einstellung erzählte Geschichte wirkt in "Running Time" zwar mitunter wie ein cineastischer und holpriger Gag - tatsächlich gibt es ungefähr dreißig verdeckte Schnitte -, aber gleichzeitig ist dieser Schwarzweißfilm natürlich eine liebevolle Verbeugung vor Altmeister Hitchcock.
Platz 1 – "Victoria" von Sebastian Schipper (2015)
Noch 136 Minuten bis zum Berliner Sonnenaufgang. Fiebrig, aufgeregt, hitzig, rastlos ... und dann fügt das Synonymwörterbuch zu "fiebrig" erstaunlicherweise noch "ununterbrochen" hinzu. Aufs Kino übersetzt: kein Schnitt, eine Einstellung. "Victoria", das ist die Stunde vor dem Verlust der Unschuld beim Banküberfall. Danach: Absturz, Drama, Tod. 136 Minuten außer Atem. Das Leben ist kein langer, ruhiger Fluss, sondern eine hektische Aneinanderreihung von Bildern und Eindrücken. Dank Digitaltechnik hat das Kino keine Probleme, diese Weltsicht eben konsequent, ohne Schnitt zu adaptieren. Am Ende haben wir uns aber auch vor Kameramann Sturla Brandth Grøvlen zu verbeugen. Der musste den zwei-Stunden-und-16-Minuten-Striemel von "Victoria" drei Mal aufnehmen. Ein Marathonlauf ist nichts gegen die Arbeit eines "One Shot"-Kameramanns in digitalen Zeiten.
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