Kino in der Wendezeit

Der deutsche Film kann auch anders

Ein DDR-Grenzübergang als Miniaturmodell in den Filmstudios Potsdam-Babelsberg.
Miniaturmodell für den Film "Sonnenallee": Der Film gilt als Vorläufer einer ganzen Welle von Wendefilmen. © picture-alliance / dpa / Nestor Bachmann
Von Josef Schnelle · 19.09.2020
Der Mauerfall war auch für den deutschen Film ein Wendepunkt. Eine ganz eigentümliche Stimmung zeigen zum Beispiel "Sonnenallee", "Good bye, Lenin!" oder "Der bewegte Mann". Filmkritiker Josef Schnelle über Unterschiede und Gemeinsamkeiten.
2003 kam "Good bye, Lenin" in die Kinos, 1999 Leanders Hausmanns "Sonnenallee". Bereits 1993 wurde "Wir können auch anders" zum Kinoerfolg, er blickt auf die Umbruchsituation in Ostdeutschland nach 1989. Ein Grundstein für die spätere Zusammenarbeit, wie sich Regisseur Leander Hausmann erinnert:
"Über 'Wir können auch anders' haben wir uns ja alle kennengelernt und so entstand auch die Boje/Buck, eine Firmenkonstellation, nach der man sich ja heute geradezu sehnt. Wenn man eine Sendung über dieses Thema macht, wie sie es jetzt machen, dann muss man darüber reden, dass in dieser Zeit wirklich Idealisten-Produzenten auf den Plan traten und den Film vollständig in Deutschland revolutionierten."

"Sonnenallee"

Eine nicht näher bestimmbare Zeit, es könnten die 1970er-Jahre sein. Micha wohnt am kürzeren Ende der Sonnenallee direkt an der Mauer und geht auf die Erweiterte Oberschule "Wilhelm Pieck". Mit einem Lied stürmt der 17-Jährige auf eine typische DDR-Party in einer sturmreifen Bude, um der so unerreichbar scheinenden Schulschönheit Miriam endlich seine Liebe zu gestehen.
Außer Mädchen haben die Jungs nur westliche Popmusik im Sinn. Wie zum Beispiel Wuschel, dem später eine heiß geliebte Platte vor dem Herzen das Leben retten wird. Andererseits steht das Abitur an und damit kommen einige Lebensentscheidungen auf die Truppe zu, die politisch bedeutsam sind: Wehrdienst, Parteizugehörigkeit und berufliche Zukunft. Und bei einem klopft sogar die Stasi an.
Doch nicht als Problemfilm legte Regisseur Leander Haußman diesen Film an, sondern als lockerere Geschichte eines Sommers mit pubertären Träumen und wilden Jugendfantasien vor kurioser Kulisse mit einem Aussichtsturm für Westbesucher in Spuckweite gleich hinter der Mauer.
Der Schriftsteller Thomas Brussig
Der Schriftsteller Thomas Brussig© dpa / picture alliance / Uwe Zucchi
"Mich hat dieser Gedanke sofort überzeugt, dass so etwas ein warmherziger, episodischer Rückblick auf die Kindheit ist. Der soll nicht davon handeln, wie die DDR wirklich war, sondern so, wie sie erinnert wird, also, dass der Fehler schon eingepreist ist", erinnert sich Drehbuchautor Thomas Brussig.
Für Regisseur Leander Haußmann war "Sonnenallee" ebenfalls ein großer Erfolg:
"Ich hatte ja noch nie einen Film gemacht. Ich wusste ja noch gar nicht, was diese Personen dort, die da alle am Set sind, für Berufe haben. Ich wusste nichts. Also habe ich gesagt: Bitte lasst mich einen Film vorher drehen, den wir nicht werten. Und dann drehte ich einen Film mit Detlev Buck als Volkspolizist. Wir sehen Babelsberg und dann sehen wir da, wie wir die Kulissen aufbauen: die Sonnenallee. Und dann sah man noch einen Wachsoldaten auf dem Wachturm. Der lud so durch und sagte: Ich freu‘ mich. Der wurde Kult. Lange, bevor der Film rauskam. Der Trailer hat das alles nicht rausgeholt, was der Teaser bereits aufgebaut hatte."

"Herr Lehmann"

Als stilbildend gilt auch Leander Haußmanns Verfilmung von "Herr Lehmann" nach dem Roman des Komponisten und Sängers der Band "Element of Crime", Sven Regener, aus dem Jahr 2003. Christian Ulmen spielt im Film die Titelrolle und Detlev Buck seinen durchgeknallten Künstlerfreund Karl. In Berlin existiert in dieser Zeit das Frontstadtbiotop Berlin-Kreuzberg mit Kneipen, die niemals schließen.
Im rauschhaft entrückten Biotop voller Egozentriker und Einzelgänger in einem fiktiv-überhöhten Berlin-Kreuzberg mit all seinen Kneipen hat Herr Lehmann, manche dürfen ihn auch Frank nennen, viel zu tun –und bekommt doch nichts zustande, das seine eben angereisten Eltern davon überzeugen könnte, sein Studium sei doch nicht vergebens. Dabei geben sich seine Freunde, allen voran Karl, viel Mühe, die Kiezgröße Lehmann im besten Licht erscheinen zu lassen.
Der Regisseur Leander Haußmann auf der Buchmesse
Der Regisseur Leander Haußmann© dpa
"Freiheit hat nicht immer unbedingt etwas mit Bewegungsfreiheit zu tun, sondern freie Leute sind frei, auch wenn sie im Gefängnis sitzen. Wenn man einfach nur so hingeht in diese Welt, dann ist man als Tourist da. Das ist eine Welt von Vertrauten und Künstlern natürlich und anderen Individualisten, die sich vollkommen diametral zu dem verhalten, was der Staat von dir oder die Gesellschaft von dir verlangt. Das war letzten Endes in Kreuzberg nicht anders", sagt Leander Hausmann.

"Die innere Sicherheit"

Jeanne ist 15, Zeit für die erste Liebe. Doch ihr Leben ist kein normales Leben. Das merkt man gleich, als die Eltern entdecken, dass ihnen Geld und Papiere gestohlen worden sind und sie Portugal verlassen müssen. Sie sind nämlich deutsche Terroristen auf der Flucht. In den Routinen der ständigen Flucht ist ihnen ihre innere Sicherheit abhandengekommen – und auch ihr Gefühl für ihre pubertierende Tochter.
"Den Begriff 'innere Sicherheit', das gibt es in keinem anderen Land", sagt Regisseur Christian Petzold. "Das gibt es nur in Deutschland. Und gleichzeitig ging es ja in diesem Film um die Geschichte eines jungen Mädchens, die gerade Frau wird und eine Identität finden muss. Diese fehlende Innere Sicherheit eines Staates und die Suche eines jungen Mädchens nach Selbstbestimmung."
Christian Petzold – geboren 1960 – gilt als einer der profiliertesten Regisseure der "Berliner Schule". "Die innere Sicherheit", geschrieben zusammen mit seinem langjährigen Lehrer an der Filmhochschule, Harun Farocki, war im Jahr 2000 sein erster langer Kinofilm, traf aber gleich den Nerv einer Gesellschaft, die noch im sogenannten "Deutschen Herbst" und der Aufarbeitung des Traumas des bundesdeutschen Terrorismus der RAF verhaftet war.
Verleihung des französischen Kulturorden Christian Petzold Regisseur mit Orden Ankunft zur Verleihung des Ordre Officier des Arts et des Lettres Orden der Kuenste und der Literatur anlaesslich der 70. Berlinale in der franzoesischen Botschaft in Berlin am 24.02.2020 
Filmregisseur Christian Petzold© imago images / Photopress Müller
"Jetzt sind wir eine Nation. Ich hatte gerade in diesem Moment das Gefühl größter Heimatlosigkeit. Die war in der Bonner Republik nicht so stark. Es war aber auch so, dass all dieser ganze Quatsch anfing, wie eben dieser von Stahl, Bad Kleinen. Es brannten die Flüchtlingsheime. Der Neonazismus hat sich in Deutschland ja schon Ende der 90er-Jahre in Deutschland ganz schnell in den neuen ostdeutschen Bundesländern breitgemacht. Für mich gab es so eine Art Nicht-Zu-Hause-sein-Gefühl."

"Good bye, Lenin!"

Als in "Good bye, Lenin!" von Wolfgang Becker eines Tages die Mauer aufgeht, verschläft Alexanders Mutter im Koma den Mauerfall. Und als sie im Juni 1990 nach acht Monaten wieder aufwacht, warnen die Ärzte vor zu viel Aufregung. Das bringt den jungen Mann in "Good Bye, Lenin!" auf die Idee, der geliebten Mutter vorzugaukeln, es sei gar nichts Besonderes geschehen. Und so entsteht aus lauter Liebe ein komplexes Lügengespinst, das ihr, die sich vorerst aus ihrem heimischen Krankenzimmer nicht hinausbewegen kann, das Leben erleichtern soll. Immer mehr gerät die vorgespiegelte "Fake-DDR" zur verdrehten Fantasie einer besseren Welt, so wie sie die Mutter sich gewünscht hätte.
"Er benutzt ja alle Leute um sich herum, um diese idealtypische Welt vorzugaukeln, und wird dadurch quasi auch jemand, der diktiert und in gewisser Weise auch manipuliert und unterdrückt. Er wird letztendlich dem, was die DDR am Anfang war, immer ähnlicher", sagt Wolfgang Becker. "Für mich ist Nostalgie eigentlich ein eher positives Gefühl, eine positive Erinnerung an etwas Schönem, Vergangenem, von dem man aber sehr genau weiß, dass es nicht wiederkommt."

"Wir können auch anders"

Die Brüder Kipp und Most wollen ihr Erbe antreten. Und weil sie sich von ihrem Ziel, dem Gut Wendelohe, das höchste Glück versprechen, machen sie sich mit ihrem klapprigen Hanomag L 28 voller Hoffnung auf den Weg Richtung Ostsee. Sie sprechen nicht miteinander. Und die Wegweiser können die beiden als Analphabeten sowieso nicht lesen. Hätten sie nicht Wiktor, einen Deserteur der sowieso auseinanderfallenden Sowjetarmee aufgelesen, wüssten sie sich auch nicht einer Bande von Wegelagerern zu erwehren.
Der Schauspieler Joachim Król posiert in Köln beim Treffen der Fernsehbranche. Er trägt einen Anzug und ein weißes Hemd.
Der Schauspieler Joachim Król© Imago / Horst Galuschka
Detlev Bucks trockener Humor in seinem dritten Spielfilm und seine geniale Besetzung der Hauptrollen mit Horst Krause und Joachim Król als Brüderpaar machte diese bizarre Situationskomödie zu einem der erfolgreichsten Filme des Jahres 1993.
Joachim Król erinnert sich: "Über die Jahre oder selbst schon während der Drehzeit ist uns ja klar geworden, dass da alles noch eine weitere Dimension hat. Dass das wahrscheinlich der erste 90-Minüter war, der diese neue deutsche Realität aufgenommen hat. Der eine aus dem Osten, der andere aus dem Westen ist. Das hat alles dann plötzlich eine Rolle gespielt. Wir haben später im Privaten rausbekommen, dass auch die Tatsache, dass ich eine Westsozialisation habe und er eine Ostsozialisation, dass uns das auch in die Karten gespielt hat."

"Der bewegte Mann"

Wie die Comics von Ralf König siedelt Regisseur Sönke Wortmann den Film "Der bewegte Mann" in der Kölner Subkultur an. Die Liebesgeschichte machte 1994 Furore: Axel hat es schwer, vor allem mit sich selbst. Er kann seiner Freundin Doro nicht treu sein. Doch die erwischt ihn in flagranti mit einer anderen Frau und weiß doch bald, dass sie von ihm schwanger ist. Er fliegt auf die Straße. Ohne Wohnung gerät der Frauenheld allerdings in ein Männermilieu, in dessen Mittelpunkt der schwule Norbert steht.
Mit über sechs Millionen Zuschauern traf Sönke Wortmanns Film "Der bewegte Mann" genau den Zeitgeist. Und beim Höhepunkt dieser etwas anderen Situationskomödie steckt eben keine andere Frau im Schrank, sondern Joachim Król lächelt Katja Riemann so unschuldig an, wie es sonst niemand kann.
Der Regisseur Sönke Wortmann
Der Regisseur Sönke Wortmann© dpa / picture alliance / Christoph Hardt/Geisler-Fotopress
Sönke Wortmann: "Es war tatsächlich ein Film, der zum ersten Mal Minderheiten, also in dem Fall Schwule, ernst genommen hat, und ich habe versucht, das in den Mittelpunkt zu stellen, was uns verbindet, also Heteros und Homosexuelle: Man verliebt sich immer in den Falschen, das ist ja das zentrale Thema dieses Films. Hintergedanken hat er natürlich auch, aber er ist einfach zu schüchtern, um die zu formulieren, er rechnet sich ja auch nicht wirklich Chancen aus bei einem gut aussehenden Hetero."
Wie war es aber für Joachim Król, der plötzlich in der Rolle eines schwulen Liebhabers mit dem Sehnsuchtsziel Til Schweiger glänzen sollte? Keine einfache Rolle nach dem Sonderling, den er in "Wir können auch anders" bei Detlev Buck kurz zuvor gespielt hatte:
"Da hatte ich natürlich das große Glück, dass der Ralf König hier an Ort und Stelle war in Köln. Ich habe ihn gefragt: Hör‘ mal, kannst du mich mal mitnehmen in die Subkultur und in die Discos? Und so ist die Figur entstanden. Mit der feinen Art, die er halt hatte, mit der Verliebtheit, die dann wiederum überhaupt nichts mit Homosexualität oder dem Schwulsein zu tun hatte."

Das komplette Manuskript zum Nachlesen: als PDF / als TXT-Datei

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