Kindheitsidylle mit subversivem Humor

02.07.2010
"Bafeln" nennt der tschechische Schriftsteller Bogumil Hrabal sein literarisches Verfahren - eine Art wild assoziativer Rede. In seinem Roman "Schöntrauer" erzählt Hrabal von seiner Kindheit in Nymburk an der Elbe.
"Als ich in die Schule kam, trug der Herr Schuldirektor Schwarz, und man sah ihm an, dass er geweint hatte. Er eröffnete uns, dass unser Bürgermeister nachts in Prag gestorben war. Schon auf dem Schulweg hatte ich gemerkt, dass die Bürger der Stadt seltsam wirkten, dass etwas geschehen sein musste. Der Herr Schuldirektor erklärte uns, dass heute ein Tag der Trauer sei, und damit wir alle auch schön trauern könnten, falle der Unterricht aus …"

In seinem Roman "Schöntrauer" berichtet Bohumil Hrabal, den man auch einen "böhmischen Kauz" nannte, aus eigener Anschauung. Er berichtet, was er selbst in dem kleinen Ort Nymburk an der Elbe zwischen dem Ende des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hat. Es ist eine Kindheitsidylle, die er mit allen Zeichen des subversiven Humors versieht.
"Ich schöntrauerte auch ein Weilchen, betrachtete die Photographie des Herrn Bürgermeisters, er war schon weißhaarig und ähnelte unserem Nachtwächter Herrn Vanatko… Ursprünglich hatte ich gemeint, dass nur wir schöntrauern sollten, die Schuljugend. Nun gewahrte ich zu meiner Verwunderung, dass die Erwachsenen ihre Blumen brachten und Gesichter machten, als läge unser Bürgermeister tatsächlich in dem Sarg."

So wie Hrabal die Sprache wörtlich nimmt und daraus komödiantische Funken schlägt, so skurril fächert er die Geschichten um drei Hauptpersonen aus der eigenen Familie auf: der schönen, lebenslustigen Mutter, dem strengen (Stief-)Vater, einem Brauereibesitzer, und dem schrulligen Onkel Pipin. Dazwischen bevölkern wie in einem großen Panorama scheinbar angesehene Bürger, lüsterne Pfarrer, schlagfertige Köchinnen und falsche Grafen die Szenerie – kurzum es ist eine Art höchst liebenswürdig und boshaft gestaltetes Pandämonium der Kleinstadt.

"Wenn ich auf Urlaub kam, in der Uniform eines Kadetten, an der Seite den schlanken Säbel, daran die Goldtroddel, hui!, wer mich da sah in der schönsten Uniform der Welt, der war ganz baff! Einmal, als ich meine Schwester ansah, senkte sie die Augen, mein Anblick warf sie um, und wir mussten ihr Quarkumschläge machen, damit sie nicht an meiner Pracht und Herrlichkeit starb!"

"Bafeln", so nannte Hrabal sein literarisches Verfahren, eine Art mündlicher, wild assoziativer Rede, die er in die Schriftsprache übersetzte. Abgelauscht hatte er diese dem unaufhörlichen Redefluss seines Onkels Pipin, einem Aufschneider und Fabulierer.

"Bafeln" – das beherrscht auch Mario Adorf, einer der dienstältesten Schauspieler der Republik, der seit 1954, als er in dem Film "08/15" einen Gefreiten spielte, dauerhaft im Kino und Fernsehen präsent ist. Vom maliziös-verschlagenen bis zum naiv-auftrumpfenden Tonfall gibt er alles.

"Als ich meine Vergangenheit durchblätterte, verweilte ich in jenen Volksschuljahren, in denen ich fliegen konnte, ohne die Gesetze des Fliegens zu kennen, in denen ich präziser zu denken vermochte als später, da ich mich der Buchweisheit hingab und ganz auf Bildung setzte."

Erzählt wird aus der Perspektive eines Kindes, des Autors als Frechdachs, der sich barbusige Meerjungfrauen auf die Brust tätowieren lässt, den Opferstock in der Kirche heimlich "beleiht" und von der Ferne sehnsüchtig auf Sextanerinnen schaut, in die er sich nacheinander verliebt.

Unbestechlich blickt er auf das seltsame Treiben der Erwachsenen, mit großen Ohren lauscht er deren Erzählungen. Er ist ein tschechischer Oskar Matzerath, der den Kosmos der kleinen Stadt wie ein bebildertes Fabelbuch aufblättert.

"Die größten Kindsköpfe in unserem Städtchen waren die Erwachsenen, die allergrößten aber waren jene Bürger, die Theater spielten. Als 'Peripherie' von Frantisek Lange geprobt wurde, redete Mutter so pragerisch und so ordinär, dass Vater Einblick in ihre Rolle nahm, um zu prüfen, ob sie das aus dem Buch hatte."

Dass Adorf sich bis heute auf die raubeinigen Gesellen versteht, mit denen er bekannt wurde, stellt er genauso unter Beweis wie seine komödiantischen Fähigkeiten. Denn wie von selbst verwandelt er sich mitten im Satz vom gütigen Erzähler in die Knallcharge, die dem berühmten Theateraffen Zucker gibt.

"Vater genoss es, dass Mutter auch die Desdemona spielte. Den letzten Akt durchlebte er wie Othello … und wie ich beobachten konnte, steigerte er sich dermaßen in die Rolle hinein, dass seine Eifersuchtsszenen echt wirkten, er schleuderte die Mutter einmal auf den Boden und schrie sie an … dass sie vor Schmerz aufschrie und Vater vorwarf, ein Rohling zu sein."

Adorf ist eine glückliche Wahl für dieses Hörbuch, mischt er doch in allen Schalk und Übermut genau die Portion Poesie, deren Melange Hrabals "Schöntrauer" zu einem Stück großer Literatur macht.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Bohumil Hrabal: Schöntrauer. Gelesen von Mario Adorf
Übersetzt von Franz Peter Künzel
Kunstmann-Verlag, München 2010
3 CDs, 19,90 Euro