Kindheit in der Natur

Rezensiert von Maike Albath · 26.01.2006
"Die blaue Gasse" spielt im Sizilien der 30er Jahre. Giuseppe Bonaviri schildert mit den Augen eines Kindes eine untergegangene Welt. Bei der Lektüre über das Leben auf dem Land ergreift einen Wehmut: Wie armselig wirkt im Vergleich eine moderne Kindheit in der Stadt?
Giuseppe Bonaviris Roman "Die blaue Gasse" erzählt von einer untergegangenen Welt. Gegenstand des autobiografisch inspirierten Zeugnisses ist eine Kindheit auf dem Land: Bonaviri, Jahrgang 1924, versetzt uns zurück in die 30er Jahre und nimmt uns mit nach Sizilien in die Umgebung von Mineo, wo wir mit den Augen des etwa neunjährigen Ich-Erzählers Giuseppe den Alltag seiner Familie kennen lernen.

Der Vater Don Néne ist Schneider von Beruf und ein belesener Mann, weshalb er - durchaus ungewöhnlich in einem kleinen Ort - Wert auf Bildung legt und seine Kinder zur Schule schickt. Die Mutter war zwischen 1919 und 1923 in die USA ausgewandert und hatte in New York als Hemdennäherin gearbeitet. Entgegen der sizilianischen Sitte geht sie öfter aus dem Haus, besitzt eine unkonventionelle Art des Auftretens und trägt besondere Kleider, worin ihr ihre Geschlechtsgenossinnen nachzueifern versuchen.

Giuseppe hat einen Bruder und drei Schwestern. Der Erfahrungsraum der Kinder ist die Natur: Auf Flora und Fauna lassen sich Fantasien projizieren, an der Natur können die Geschwister ihre Kräfte messen, und der Rhythmus der Jahreszeiten bestimmt den Rhythmus des Lebens. Der Augusthimmel mit den zahllosen Sternschnuppen wird zum Auslöser für ein Spiel, bei dem die Kinder nach den Überbleibseln der Sternschnuppen suchen. Im Wald meinen sie Stimmen zu hören, was für sie ein Feengeflüster ist. Oder sie debattieren die Frage, welche Farbe Gott haben könnte. Das Schlachten der Tiere gehört für sie ebenso zum Alltag wie das Pflücken von Feigenkakteen und die Schneckensuche nach den ersten Regenfällen im Oktober.

Eine Fülle von Pflanzennamen skandiert die poetisch-träumerische Prosa Bonaviris: Da gibt es Affodillen, Senfgras, Bergmelisse, Minze, Borretsch, Thymian, Oregano, Margeriten, Therebintensträucher, Oleaster, Baldrian, Kapernbüsche, Seifenkraut, Klatschmohn und Nieswurz.

Die kindliche Wahrnehmung der Natur findet eine Entsprechung in dem bäuerlichen Weltempfinden mit seinen magischen Anteilen: Die Pflanzen und meteorologischen Erscheinungen künden immer von etwas Größerem, Götter werden zitiert, Voraussagen anhand der Veränderungen des Himmels oder des Verhaltens der Tiere getroffen.

Obwohl an der Oberfläche der Katholizismus herrscht, ist der pagane Untergrund ständig spürbar. In Bäumen und Sträuchern leben ebenso wie in Wasserquellen Heerscharen von Geistern, im Winterwind sind die Stimmen von Hexen vernehmbar, man zelebriert Fruchtbarkeitsriten, und in den Formen der Brote, die von den Frauen gemeinsam gebacken werden, schlagen sich alte Vulva-Symbole nieder.

Noch Anfang der 30er Jahre findet auf Sizilien eine archaische Kultur ihre Fortsetzung, die seit Jahrhunderten unverändert ist. So gibt es zum Beispiel den Beruf der Plazentasammlerin: Eine Frau aus dem Dorf wird zu Wöchnerinnen gerufen, nimmt die Plazenta mit, fängt das Blut auf, wäscht sie am Fluss aus und verarbeitet die Bestandteile zu Seren und Salben. Giuseppe Bonaviri, Arzt von Beruf, schildert die Verfahrensweise - später wird die Praxis per Gesetz verboten – und stellt die heilende Kraft der Produkte dar – heute würde man von Stammzellenkur sprechen, erklärt der Mediziner.

Seine Kinderwelt ist mitnichten unschuldig: Immer wieder wird von der sexuellen Neugierde der Mädchen und Jungen berichtet, die sie in Spielen und Mutproben verklausulieren und bei den Beobachtungen der Tiere stillen können.

Bei der Lektüre ergreift einen leise Wehmut: Wie armselig wirkt im Vergleich eine moderne Kindheit im städtischen Umfeld? Eine Idealisierung der Vergangenheit liegt Giuseppe Bonaviri, der insgesamt neun Romane und etliche Erzählbände veröffentlicht hat, jedoch fern. Viele Familien litten große Armut, etliche Kinder mussten harte Feldarbeit leisten, und der Tod eines jungen Mannes aus dem Dorf, der an einer Bagatelle zugrunde geht, kommt ebenso zur Sprache wie die auf das Haus reduzierte Lebensform der Frauen.

Bestechend an "Der blauen Gasse" ist Bonaviris lyrische Erzählweise: Er findet immer wieder Bilder und Vergleiche für die besondere Empfindungskraft der Kinder.

"Mir schien, als kämen ihm die Worte bunt angemalt aus dem Mund, eines im anderen steckend und von kleinen Kreisen umschlossen, die zuweilen, wenn die Töne eine hellere Klangfarbe annahmen, von Zinnobergelb in Aschgrau übergingen"

, heißt es einmal. Ein anderes Mal ist die Rede von einem Gewitter:

"In der Ferne erblickten wir an dem noch sichtbaren zerknitterten Streifen Horizont ein Wetterleuchten, das die Wolken, wenn es auf sie übersprang, einen Augenblick lang erglühen ließ. Für mich sah es aus, als ob auch der Himmel wegen dieser wogende Blitze zitterte und in seiner Kuppel schwankte."

Am Ende des Buches erhält Giuseppes Familie Besuch von einem Onkel. Dieser Onkel hat die Angewohnheit, aus dicken Büchern wie den Schriften Galileis vorzulesen, wobei ihm die gesamte Gasse zuhört. In Mineo gibt es ein besonderes Phänomen: Jeden Abend werden die Straßen kurz vor Einbruch der Dunkelheit von einem besonderen Licht durchströmt, das allem eine blaue Farbe verleiht. Der Onkel kann diese Erscheinung mithilfe Galileis erklären. Andächtig lauschen die Bauern seiner Stimme. "Die blaue Gasse" ist ein Epitaph - dieses Sizilien existiert nicht mehr.

Giuseppe Bonaviri: Die blaue Gasse
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
C.H.Beck Verlag, München, 2006
279 Seiten; 19,90 Euro