Kinderpsychologe: Rolle des Internets bei Amokläufen nicht überbewerten

Moderation: Liane von Billerbeck · 16.03.2009
Der Leiter des Instituts für Kinderpsychologie und Lerntherapie in Hannover, Wolfgang Bergmann, hat sich skeptisch gezeigt, dass eine stärkere Kontrolle der Internet-Nutzung von Jugendlichen dazu beiträgt, Amokläufe wie den in Winnenden zu verhindern. Ursache für Gewaltphantasien bei Kindern sei viel mehr Isolation. "Wir haben einfach zu viele isolierte Kinder", so Bergmann.
Liane von Billerbeck: In Hannover bin ich jetzt telefonisch mit Wolfgang Bergmann verbunden, einem der bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendpsychologen, der sich intensiv mit den Auswirkungen einer durch Computer geprägten Umwelt auf die kindliche Entwicklung beschäftigt hat und mehrere Bücher darüber geschrieben hat. Herr Bergmann, ich grüße Sie!

Wolfgang Bergmann: Grüß Sie!

von Billerbeck: Es braucht gerade mal 20 Sekunden, um von dem Portal, in dem Menschen trauern, ins nächste zu gelangen, wo dann zum Beispiel Tim K., der Täter von Winnenden, sehr respektvoll auf Platz 17 der Rangliste der erfolgreichsten Attentäter benannt wird. Provoziert das Internet Fantasien so von pubertärer Kraftmeierei bis hin zu brutalen Gewaltgedanken, einfach weil das jeder so folgenlos tun kann?

Bergmann: Nein, in diesem Fall ist das Medium eigentlich relativ unschuldig, weil diese Fantasien gibt es unabhängig davon. Wenn Sie in einer Bierkneipe sitzen, dann können Sie auch die unterschiedlichsten Meinungen von "Da hat der auch ganz recht, diese Schulen müssen alle abgefackelt werden" bis hin zu tiefer Trauer mitbekommen. Also das erscheint mir alles sehr wenig unterschieden zu Vor-Internetzeiten.

Allerdings hat das Internet - wie insgesamt ja aber die Realität der Kinder - eine ungeheure Bildmächtigkeit. Das heißt, was bewirkt das, dass ich das alles sehen kann, dass ich damit interagieren kann, das rückt mir sozusagen auf die Haut. Da muss man sich dann fragen, so ein 12- oder 14-Jähriger oder -Jährige, wie verarbeiten die das.

Und ein Letztes fällt mir dazu ein: Wir erschrecken immer wieder - auch bei diesen Magersuchtbildern oder bei satanistischen oder Gothic-Webportalen -, welch eine Ansammlung von Destruktion, ja Vernichtungsfantasien sich schon bei sehr jungen Kindern und Jugendlichen angesammelt haben. Da müssen wir dann tiefer fragen, nicht einfach nur, das Gerät ist Schuld, sondern woher kommt das denn?

von Billerbeck: Und woher kommt das?

Bergmann: Das ist eine große gesellschaftliche Aufgabe. Aber Sie haben es im Vorspann ja schon gesagt, drei Dinge fallen immer wieder auf und die sind eben nicht nur typisch für Amokläufer, die sind ein bisschen die Spitze des Eisberges: Das Erste ist isoliert. Wir haben einfach zu viele isolierte Kinder, das heißt, sie haben schon ganz früh nicht gelernt, mit anderen Kindern freudig und vorbehaltlos zu spielen. Sie haben sich selber im Kontakt, im Spiel mit anderen nicht kennengelernt. Dafür gibt es viele Gründe, nicht zuletzt der Leistungsdruck, der heute schon in die Kindergärten Einzug gezogen hat.

Dann die Schule. Solche Kinder, die das Soziale nicht tief verinnerlicht haben, nicht empfunden haben, die anderen Kinder, die wittern das, die haben eine Intuition dafür, die weichen dann zurück. Und plötzlich ist solch ein Kind isoliert. Es reicht ja nicht, zu sagen, dass der isoliert war. Man muss auch fragen warum.

Und nun kommt noch etwas anderes dazu: Wir sind geradezu durchzogen, ja durchstresst von einer Leistungskultur. Das hat mit der Veränderung unserer Wirtschaftsordnung insgesamt zu tun. Die Eltern drängen es auf die Kinder, du musst das und das schaffen, sonst ist deine Zukunft unsicher. Und die Schulen setzen noch einen drauf: Mit neun Jahren fragen die Kinder bereits, nicht macht Lesen Spaß, sondern reicht mein letztes Diktat für die Gymnasialempfehlung. Also auch hier wird Rivalität unter den Kindern und damit auch Angst, Angstrivalität gestiftet.

Wenn ich jetzt so ein Kind vor Augen habe, isoliert, es liebt sozusagen die Realität nicht, in der es sich aufhält, es findet keinen Kontakt zu den anderen Kindern, es fühlt sich entwertet. Dann baut man solch ein inneres hybrides Bild auf, ich bin eigentlich ganz toll, eigentlich bin ich grandios, ihr wisst das nur alle nicht, ich werde euch vernichten, um meine Grandiosität zu beweisen. Jetzt endlich kommen diese Computerspiele und Internet ins Spiel.

von Billerbeck: Medienkinder brauchen schützende Identität, haben Sie mal geschrieben. Sie haben das eben mir auch schon so ein bisschen angedeutet. Nur wie Kinder schützen, wenn Eltern - selbst die, die wach sind und auf ihre Kinder achten, zugewandt und fürsorglich sind - oft gar nicht mehr wissen, was ihre Kinder da am Computer treiben?

Bergmann: Ach, das finde ich nicht so schlimm. Ich habe bei meinem Sohn und auch jetzt bei meiner Tochter auch nicht geguckt, was die im Internet treiben. Ich verlasse mich einfach drauf, wenn mein Töchterchen eine pornografische Seite oder damals der Sohn eine rechtsradikale Seite oder sonst was antraf, dann sagten die igitt und klickten das Ding weg.

Nein, es ist alles schon gelaufen, es ist vorher entschieden. Wenn diese Kinder eine liebevolle Bindung an die Realität haben - die erwirbt man aber mit zweieinhalb oder drei Jahren, dann entscheidet sich das. Das klingt fast wie ein Klischee, nicht, ist aber so. Und außerdem eine respektvolle Liebe zu Mama und Papa. Die wollen die Welt nicht verlassen, die wollen sich selber nicht entwertet fühlen und fühlen sich auch nicht entwertet und erst recht wollen sie nichts zerstören. Da muss man nicht ständig denen über die Schulter gucken, eher im Gegenteil.

Ich bin sehr misstrauisch gegenüber diesem jetzt von allen Seiten zu hörenden Ruf: Kontrolle, mehr Begrenzung, die Eltern müssen mehr aufpassen. Nein, sie müssen ihre Kinder vertrauensvoller lieben und zum Vertrauen erziehen. Das kann man. Wie das konkret aussieht, neben diesen jetzt etwas allgemeinen Sätzen, darüber müsste man länger sprechen. Aber das Gegenkonzept ist, über die Eltern und dann über andere Freunde lernen die Kinder, die Wirklichkeit zu lieben und damit sich selber. Solche Kinder machen keine Amokläufe, sie werden - nebenbei bemerkt - auch nicht computersüchtig.

von Billerbeck: Es gab aber am Wochenende ja genau eine Studie, die veröffentlicht worden ist, dass mehrere Tausend Neuntklässler ihre freie Zeit so intensiv am Computer verbringen, dass man sie als süchtig bezeichnen kann. Besonders beliebt bei Jungs Gewaltspiele wie "World of Warcraft". Welche Konsequenzen sollte man denn da ziehen?

Bergmann: Mit den Konsequenzen hat sich das so. Also zunächst mal muss man gucken, was wirklich passiert. "World of Warcraft" ist kein Gewaltspiel, "World of Warcraft" ist ein hoch komplexes, wie ich finde, grafisch ein bisschen einfallsloses - aber ist ja Geschmackssache - Spiel, da muss man schon seinen Kopf gehörig anstrengen.

Da kommt noch ein Zweites dazu: Gerade bei "World of Warcraft", das ist übrigens der Trick dieses Spiels, gibt es die sogenannten Gilden, das heißt Gemeinschaften. Und in diesen Gemeinschaften, da leben die guten, alten Werte, dass einer Familienministerin das Herz aufgehen müsste. Man lässt so eine Gemeinschaft nicht im Stich, ja, manche opfern sich für die Gemeinschaft. Man darf sich nicht egoistisch in den Vordergrund drängen, sonst wird man rausgeschmissen. Also die Zusammenhänge sind hier komplexer.

Aber was richtig ist, die ganze Bildästhetik, dieses "Ich verfüge über diese Welt", "Ich bewege mich grandios jenseits von Zeit und Raum", "Ich bin gar nicht ich, ich bin viel mehr als ich", das stachelt sozusagen ein hybrides Selbstbild, ein narzisstisches Selbstbild an. Und narzisstische Selbstbilder sind immer vom Absturz durch die Realität bedroht. Die nächste Fünf in der Klassenarbeit zeigt mir, so doll bin ich gar nicht. Und das kann ein Kreislauf werden. Immer hybrider wird das Selbstbild, immer massiver der Absturz. Dann ist zwischen Depression und süchtigem Bild kaum noch zu unterscheiden.

von Billerbeck: Der Kinder- und Jugendpsychologe Wolfgang Bergmann war mein Gesprächspartner. Ich danke Ihnen.

Bergmann: Gern.

von Billerbeck: Am kommenden Samstag wird er gemeinsam mit der Kriminologin Britta Bannenberg von der Universität Gießen in unserer Sendung "Im Gespräch" zu Gast sein. Samstag also, von 9 Uhr 5 bis 11.