Kinderjahre im Krieg

Vorgestellt von Jochen Thies · 02.09.2007
Dies ist ein Buch, dessen Lektüre durch Mark und Bein geht, und das auf unerwartete Weise die Erfahrungsberichte von Hans Graf Lehndorff und von Marion Gräfin Doenhoff über den Untergang Ostpreußens im Jahre 1945 ergänzt.
Verfasst hat es ein heute 70-jähriger, in Berlin lebender ehemaliger Wirtschaftsingenieur, der als Achtjähriger den Endkampf um Königsberg miterlebte. Zusammen mit seiner Mutter, die noch ein Brüderchen zur Welt bringt, der Großmutter und einigen Tanten verbringt Hans-Burkhard Sumowski harte, entbehrungsreiche Monate in der umkämpften Stadt, die vom Kriegsalltag geprägt sind. Jeden Tag verbringt der Junge bei den Soldaten, die mittlerweile die Verpflegung der Festung Königsberg übernommen haben.

"Die Soldaten waren in einer Halle untergebracht und schliefen in Doppelstockbetten. Wir lebten mit ihnen geradezu symbiotisch. Wir waren ihre Ersatzkinder, sie unsere Ersatzväter. Wir beteiligten uns am Waffenputzen, wir transportieren Gegenstände, bekamen ein bisschen Fliegerschokolade, Schokakola genannt, ein bei uns Kindern heißbegehrtes Genussmittel. Wie lange hatten wir keine normale Schokolade und Süßigkeiten mehr gesehen?

Ich empfand mich immer mehr als Mitglied einer verschworenen Gemeinschaft mit den Soldaten der Wehrmacht."

Danach vollzieht sich das persönliche Drama des Jungen in mehren Akten. Der im März 1945 auf die Welt gekommene Bruder Sumowskis überlebt die katastrophale Versorgungslage nach dem Einmarsch der Russen nicht

"Am nächsten Morgen sagte mir Mutter mit trauriger Stimme: 'Bullerchen, ich muss dir etwas sagen: Unser kleiner Siegbert ist gestorben. Er ist heute Nacht ganz friedlich eingeschlafen.' Ich wusste genau, dass das nicht stimmte. Er war schon am Abend tot gewesen, hatte er doch weder geschrien noch gejammert, sondern war nur noch still gewesen.

Ich sagte kein Wort und weinte bitterlich um mein Brüderchen."

Aber es soll für den Achtjährigen, der die massenhaften Vergewaltigungen von Mutter und anderen weiblichen Verwandten erlebt, noch schlimmer kommen. Die Großmutter begeht Selbstmord. Der Junge steht an Massengräbern und sorgt sich um seine Mutter, die in einem Krankenhaus um ihr Leben ringt. Eines Tages ist ihr Zimmer leer.

"Die Schwester brachte die übliche Wassersuppe und setzte sich zu mir an den Tisch. Ich hatte furchtbaren Hunger, denn ich hatte lange nichts gegessen. Das für Mutter erbettelte Brot steckte noch in meiner Hosentasche. Nach ein paar Löffeln sagte die Schwester plötzlich: 'Deine Mutter ist nicht mehr.' Sie hatte mich mit dem Angebot, die Suppe meiner Mutter zu essen, auf diesen Moment vorbereiten wollen, ohne dass ich es gemerkt hatte."

Viele alleingelassene Kinder sterben in Ostpreußen während der nächsten Wochen und Monate. Aber Sumowski gehört zu denen, deren Überlebenswillen ungebrochen ist. Und er hat das Glück, zu einer Altersgruppe zu zählen, die in diesem Chaos überlebensfähig ist. Kleinere Kinder haben keine Chance. Ältere werden deportiert.

In den folgenden zweieinhalb Jahren durchläuft der Junge Waisenhäuser in Ostpreußen und hat dann das Glück, mit einem vom Internationalen Roten Kreuz organisierten Kindertransport nach Westen gebracht zu werden. Eine Ansichtskarte, die er viele Monate zuvor an Verwandte geschickt hat und die tatsächlich ihren Empfänger erreicht, stellt am Ende die Verbindung zum Vater her, der den Krieg als Soldat der Wehrmacht in Norwegen überlebt hat. In einem Kinderheim in Thüringen kommt es kurz nach Weihnachten 1947 zu einer glückhaften Begegnung:

"Nach einer Ewigkeit rief endlich jemand: 'Burkhard, komm runter!' Mit zitternden Knien schlich ich langsam die Stufen bis zum ersten Treppenabsatz hinunter und schaute ängstlich, erwartungsvoll um die Ecke. Es konnte keinen Zweifel geben: Der Mann unten in der Halle war mein Vater, ich erkannte ihn sofort. 'Er ist es, er ist es, er ist es', dachte ich nur und flog förmlich den unteren Teil der Treppe hinab, nahm drei Stufen auf einmal und mit dem letzten Sprung landete ich in seinen Armen. 'Papi, Papi!' Ich schrie, ich weinte, ich lachte. Vater drückte mich fest an sich, jetzt endlich war alles gut. Mein Vater war wirklich da, ich war bei ihm, niemand würde ihn mir je wieder nehmen können."

Sumowski hat ein vor allem für junge Menschen ein wichtiges, ein kluges, sehr reflektiertes Buch geschrieben, indem er am Ende bekennt, trotz aller Entbehrungen und Erfahrungen ein normaler Jugendlicher in Soltau in der Lüneburger Heide, wohin es den Vater verschlagen hatte, geworden zu sein.

"Gleichwohl haben die Jahre in Ostpreußen zur Zeit der russischen Besatzung mein ganzes Leben geprägt. Noch heute steckt in mir dieses alleingelassene Kind, dem nichts anderes übrigbleibt, als weiterzukämpfen. Die Erlebnisse haben mich stark gemacht, haben mich gelehrt, wie wichtig es ist, erfinderisch zu sein, wenn alles aussichtslos scheint. Und sie haben mich mit großer Dankbarkeit erfüllt, Dankbarkeit, überlebt zu haben, nicht verzweifelt zu sein, und Dankbarkeit gegenüber all den Menschen, die mir geholfen haben."


Hans-Burkhard Sumowski: Jetzt war ich ganz allein auf der Welt. Erinnerungen an eine Kindheit in Königsberg 1944-1947
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007
Hans-Burkhard Sumowski: "Jetzt war ich ganz allein auf der Welt"
Hans-Burkhard Sumowski: "Jetzt war ich ganz allein auf der Welt"© DVA