Kinderbetreuung in Flutgebieten

Auch in schwierigen Zeiten ein Lächeln aufs Gesicht zaubern

07:15 Minuten
Aufräumen in den Flutgebieten: Kuscheltiere auf dem Sperrmüll.
Viele Kinder in den Flutgebieten vermissen ihre Kuscheltiere. Die landen jetzt auf dem Sperrmüll, wenn sie denn wiedergefunden werden. © picture alliance / Thomas Frey
Von Vivien Leue  · 04.08.2021
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Ganze Dörfer zerstört, über Nacht plötzlich obdachlos: Was für Erwachsene schon traumatisch ist, nimmt Kinder noch mehr mit. Deshalb haben Freiwillige Spiel- und Betreuungsmöglichkeiten organisiert, damit die Kinder das Erlebte verarbeiten können.
Nach der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hat der Wiederaufbau begonnen. Damit Eltern mehr Zeit dafür haben und Kinder mehr Möglichkeiten, kindgerecht zu spielen, gibt es in beiden Bundesländern inzwischen zahlreiche Kinderbetreuungsangebote.
Eines befindet sich auf der Weide eines Bauern in Kalkar, einem Ortsteil von Bad Münstereifel. Blauer Himmel, im Hintergrund liebliche Hügel und Wälder, es sieht idyllisch aus. Kaum zu glauben, dass nur wenige Autominuten entfernt Häuser und Straßen in Trümmern liegen.
"Uns war wichtig, dass die Kinder rauskommen", sagt die Pädagogin Anja Zinken. "Hier ist es so, als ob nichts passiert wäre."
Die Pädagogin leitet normalerweise die Nachmittagsbetreuung der nahe gelegenen Grundschule. Als die Fluten vor knapp drei Wochen hier enorme Verwüstungen anrichteten und Familien zum Teil obdachlos wurden, dachte sie an die Kinder.
Auch Martin von Rechenberg, dem Leiter der Grundschule, ging es so. In der Gegend ist sehr viel kaputt, es gibt riesige Baustellen, es fahren schwere Baufahrzeuge. "Das ist keine Umgebung, in der Kinder spielen können oder überhaupt irgendwie existieren können."
Bei vielen sei außerdem das Zuhause beschädigt oder gar zerstört und die Eltern gerade hochgradig im Stress, weil sie selbst betroffen sind oder weil sie bei Bekannten oder Verwandten helfen.

"Kuscheltiere haben einen megahohen Stellenwert"

So organisierten er, Anja Zinken und andere Freiwillige eine Kinderbetreuung. Seit gut einer Woche können Fünf- bis Elfjährige von 8 bis 16 Uhr hier spielen, essen und einfach mal abschalten.
Vier weiße große Zelte und eine bunte Hüpfburg stehen auf der Wiese. Knapp zehn Kinder tollen umher.
Es gebe ein Ruhe- und Kuschelzelt, das sei um die Mittagszeit sehr beliebt. "Sehr provisorisch natürlich", sagt von Rechenberg. Ein Fitnessstudio habe die Matten gespendet. Auch Kuscheltiere und Kinderbücher seien gespendet worden.
"Die Kuscheltiere haben gerade einen megagroßen Stellenwert. Wir haben auch viele schon mit nach Hause gegeben, weil nichts mehr da ist."
Viele solcher Kinderbetreuungen sind in den betroffenen Flutgebieten mittlerweile entstanden, hauptsächlich durch ehrenamtliches Engagement: Wer kennt wen, kann was besorgen? Wo bekommen wir die Zelte, die Hüpfburg, das Mittagessen her?
Eine Hüpfburg, ein weißes Zelt und weiße Plastikstühle stehen auf einer Wiese, im Hintergrund Hügel mit Wald und blauer Himmel.
Jedem Kind ein Lächeln auf das Gesicht zaubern - das ist das erste Ziel der Kinderbetreuung.© Deutschlandradio / Vivien Leue
"Wir haben es, glaube ich, geschafft, jedem Kind an unterschiedlichen Momenten im Tag ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern. Das ist das, was erst mal wichtig ist", sagt Anja Zinken und zeigt auf zwei Brüder im Grundschulalter, die mit dem Hund von Martin von Rechenberg auf der Weide spazieren gehen. Die beiden hätten gerade gar nichts mehr. "Sie leben in einer Notunterkunft."
Die Flutkatastrophe hat das Zuhause Tausender Menschen zerstört. Dazu kommen die schlimmen Erinnerungen der Flutnacht. Und dann: die Verwüstungen der Nachbarschaft, des Fußballfelds, der Schule oder Kita.
"Kinder verarbeiten auch solche schrecklichen Situationen ganz oft mit Spielen", erklärt von Rechenberg. "Die spielen Situationen nach. Das brauchen die auch, um diese ganzen Eindrücke zu verarbeiten."
Hier in der Kinderbetreuung auf der grünen Wiese schaffen Schulleiter Martin von Rechenberg und Anja Zinken den Raum für solche Spiele und Momente.

Es braucht positive Erlebnisse

Wie wichtig das ist, erklärt Birgit-Marie Stoewer von der Kinderschutzorganisation Start International. Sie sitzt im Garten einer Kita im ebenfalls schwer getroffenen Ort Arloff, wenige Minuten entfernt.
"Man sagt so schön im Deutschen, man ist aus dem seelischen Gleichgewicht gekommen. Und so eine Katastrophe ist ein richtiger Klatsch auf die Seite negative Erfahrungen und Schreck."
Nun müssten – bei Kindern wie Erwachsenen – die positiven Erlebnisse wieder gefördert werden, zum Beispiel durch Bewegungsspiele.
Die Organisation Start International begleitet verschiedene Kinderbetreuungen in der Region, schult die Ehrenamtlichen und gibt Eltern Tipps, wie sie jetzt und in Zukunft das Trauma Flut aufarbeiten können. Normalerweise sind Stoewer und ihre Kolleginnen und Kollegen in Krisengebieten weltweit unterwegs, jetzt werden sie im Heimatland gebraucht.

Erleben, etwas schaffen zu können

"Bei einem traumatischen Erlebnis ist immer dabei, dieses Erlebnis von Hilflosigkeit und Opfer sein. Also: Ich kann nicht mehr agieren, ich habe mein Leben nicht mehr in der Hand." Deswegen gehe es darum, wieder die Möglichkeit zu schaffen, selbst tätig zu werden, sich auszudrücken. Um gegen das Überwältigtsein zu wirken.
Im Innenraum der Kita malen die zwei- bis sechsjährigen Kinder deshalb gerade Bilder. So können sie ausdrücken, wofür sie keine Worte finden – und erleben, dass sie selbst etwas schaffen können, sie nicht nur hilflos sind.
Im Garten haben sich unterdessen Mütter zusammengefunden, um gleich mit Birgit-Marie Stoewer und ihrer Kollegin über das Erlebte zu sprechen. Gerade die ersten Tage nach der Flut waren für sie mit den kleinen Kindern enorm belastend.
"Ich hatte auch als erstes Schwimmflügel eingepackt, weil ich ja auch nicht wusste, was ist, wenn das Haus doch nachgibt oder ich raus muss und ringsum ist das Wasser und wenn mir der Kleine vom Arm rutscht?"
Der dreijährige Sohn dieser Mutter vermisst vor allem seine im Schlamm versunkenen Kuscheltiere.
"Der Adi ist auch kaputt und der Fanny ist alleine auch voll Schlamm."
(abr)
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