Kinder von Rotarmisten in Deutschland

Die Suche nach den russischen Vätern

Sowjet-russische Soldaten bei ihrer Exerzierausbildung, Elstal, Juni 1990
In der DDR stationierte sowjetische Soldaten. Beziehungen zu deutschen Frauen waren nicht gerne gesehen. © Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst / Wladimir Borissow
Von Thomas Klug und Philipp Buder · 04.10.2017
Über eine halbe Million sowjetische Soldaten waren in der DDR stationiert. Bei ihrem Abzug 1994 hinterließen sie nicht nur leere Kasernen, sondern auch zahlreiche Kinder aus Beziehungen zu deutschen Frauen – und die Kinder suchen bis heute ihre Väter.
"Ich habe nicht meinen Vater gefunden, ich habe sein Grab gefunden. Als ich das erste Mal am Grab vom Vater gestanden habe, das war mitten in der Steppe, eine Mauer um das Grab herum gebaut … Als ich das gesehen habe und die Familie daneben gestanden hat, habe ich gedacht: Das ist ein unauflösbares Band, was sich da zusammengefunden hat. Das ist meine Familie, und das wird sie also auch immer bleiben."

Von Berlin nach Kasachstan

1997 steht Anatoly Rothe zum ersten Mal am Grab seines Vaters. Da war er 51 Jahre alt und sein Vater seit fünf Jahren tot. Der Weg zum Grab war weit. Es dauerte Jahre ihn zurückzulegen. Er führte von Berlin nach Kasachstan. Dort erfuhr er, dass er neun Halbschwestern hat. Sein Vater, Amentai Nuralijew, war Oberleutnant der Sowjetarmee. Er verliebte sich gleich am letzten Tag des Zweiten Weltkrieges in eine Deutsche. 1946 wurde Anatoly Rothe geboren. Seine Eltern durften keine Beziehung führen.
"Wir wollen die sowjetischen Soldaten beglückwünschen für die Rettung der Kinder, die sie mit Einsatz ihres Lebens gerettet haben."

"Bruderstaaten", "brüderliche Verbundenheit", "unverbrüchliche Freundschaft" lauteten die Phrasen der DDR-Politik. Sie hatten wenig mit der Realität zu tun. Die "Freundschaft" mit den Sowjetsoldaten war verordnet, ein wirkliches Kennenlernen war selten. Sowjetische Soldaten und DDR-Bürger begegneten sich meist bei offiziellen Anlässen – und hielten offizielle Reden.

Im festlich geschmückten Klubsaal der Kaserne haben sich die Offiziere und Soldaten der sowjetischen Einheit, die an der Rettung der Kinder beteiligt waren, versammelt. Und nun gehen die Jungen Pioniere mit ihren Blumensträußen auf die sowjetischen Soldaten und Offiziere zu, überreichen sie ihnen und tauschen feste Händedrücke mit ihnen.
"Liebe junge Pioniere, vor Ihnen stehen sowjetische Soldaten, welche Hilfe in der Rettung deutscher Kinder geleistet haben. Unsere sowjetischen Soldaten haben ihre Pflicht vor ihrer Heimat erfüllt. In der Sowjetunion, unsere Regierung, unsere Kommunistische Partei immer sorgt für die Kinder."
Für die DDR war die Sowjetunion der große Bruder und zugleich der Befreier von der Naziherrschaft. Für die Sowjetunion war Ostdeutschland aber Teil des Landes, das den Krieg begonnen hatte. Es standen sich Sieger und Besiegte gegenüber. Die Armeeführung wollte einen zu engen Kontakt mit Deutschen vermeiden. Die Sieger hatten Angst vor den Besiegten. Es war die Angst vor Geheimnisverrat, die in jeder Armeeführung umgeht. Und es war die Angst, dass die Soldaten sehen könnten, dass der Lebensstandard der Besiegten inzwischen höher war als der der Sieger. Und eines sollte es schon gar nicht geben: Beziehungen zwischen sowjetischen Soldaten und Frauen aus der DDR.

"Insbesondere von sowjetischer Seite waren diese Liaisons zwischen Frauen und Männern alles andere als gern gesehen, denn, das haben viele vergessen, bis 1994 hat sich die sowjetische Besatzungsarmee auf feindlichem Territorium aufgehalten."
Um das zu verhindern, war Ausgang für Soldaten selten vorgesehen, sagt Ilko-Sascha Kowalczuk, Historiker und Autor des Buches "Roter Stern über Deutschland".
"Man muss immer unterscheiden: Redet man mit einfachen Soldaten, die ihre Grundwehrzeit in der DDR absolviert haben, dann werden Sie andere Geschichten hören als von Offizieren – und zwar aus dem einfachen Grund, weil der gemeine Soldat unter für unsere Verhältnisse fürchterlichen Lebensbedingungen hier hausen musste."
DDR-Bürger und Sowjetsoldaten sind sich begegnet - bei Arbeitseinsätzen in der Landwirtschaft oder in den volkseigenen Betrieben.
"Es gab ja auch Arbeitszusammenhänge, wo beispielsweise ein Sportstadion gebaut wurde in irgendeiner einer kleinen Stadt. Dann hatte die Stadt ja gar nicht die Kräfte dafür. Und dann wurde gesagt: Ach, Mensch, könnt ihr da nicht mal ein paar Soldaten schicken, damit wir hier mal ein Sportstadion haben und ein gemeinsames Sportfest. So entstand dann das Zusammentreffen."
Auf einer Propagandatafel aus Stein steht das Wort "Frieden" in verschiedenen Sprachen und ist eine Friedenstaube zu sehen.
Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen blieben die leeren Kasernen zurück. Die Spuren zu den Vätern der "Russenkinder" wurden verschwischt.© picture alliance / dpa ZB / Jens Büttner

Väter wurden sofort zurückgeschickt

Gelegentlich entstanden so zwischen Soldaten und ostdeutschen Frauen Beziehungen. Kinder wurden geboren. Das hatte Folgen. Zunächst für die Väter.
"Und die sind in aller Regel bis weit in die 70er-Jahre hinein, wenn das rauskam, sofort abgezogen worden und zurück in die Sowjetunion gebracht worden, was dazu führt, dass viele Kinder aus solchen Beziehungen, die zwischen den 50er- und 70er-Jahren gezeugt worden sind, ganz oft, es handelt sich fast durchweg um Väter, also um Männer, die ihren Vater nicht kannten oder nicht kennengelernt haben."
"Bei meinem Vater hat der Major gesagt: Also komm, du gehst nach Hause und damit ist die Sache erledigt. Die Entscheidung lag bei dem Vorgesetzten."
Anatoly Rothes Vater konnte einer Bestrafung entgehen, indem er eine Kasachin heiratete. Er hat Anatoly kurz nach der Geburt gesehen. Danach nie wieder. Wurden die Soldaten nicht bestraft, konnte eine Beziehung unmöglich gemacht werden. Die Soldaten wurden ohne Vorwarnung in andere entlegene Orte versetzt, ohne, dass sie Gelegenheit hatten, sich zu verabschieden.
"Natürlich gab es das andere auch, dass die Leute merkten, ok, da ist jetzt meine Freundin schwanger, da mache ich mich aus den Staub oder versuche, mich aus dem Staub zu machen. Das war natürlich extrem einfach. Die brauchten ja nur ihre Kaserne nicht mehr zu verlassen, weil die Frau ist ja nicht in die Kaserne rinngekommen - und was wollte die machen?"

Die "Russenkinder"

Die Mütter waren meist die Verlassenen. Manche von ihnen schwiegen über Jahre. So erfuhren die Kinder erst spät von ihrer Herkunft. Wie viele dieser Kinder gibt es? Anatoly Rothe spricht von 100.000. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hält die Zahl für zu hoch.

"Ich kann das nicht ausschließen, aber ich bezweifle, dass das da valide Erhebungen gibt."

Anatoly Rothe hat einen Verein gegründet, der Hilfe bei der Vatersuche anbietet: Russenkinder e.V.
"Das Wort ist ein Begriff aus der Nazi-Ideologie: Russen sind Untermenschen und demzufolge sind ihre Kinder auch nicht so viel Wert. Dann haben wir überlegt, was gibt es noch für Möglichkeiten, aber wir sind auf nichts anderes gekommen. Und einige haben sogar gesagt, wir sind stolz darauf Russenkinder zu sein."

Russenkinder – das meint die Kinder von allen Nationalitäten, die der Sowjetarmee angehörten.
"Bei mir war es so, meine Mutter, als sie geheiratet hat, hat die Angaben weggegeben und hat gesagt: Ich baue mir jetzt ein neues Leben auf und da spielt es keine Rolle mehr. Der Mann nimmt meinen Sohn auf und Schluss, Ende. Die Sache ist erledigt. Und dann hat sie alles entsorgt, was sie hatte, sie hatte ja alle Angaben von ihm."

Die schwierige Suche nach den Vätern

Die Suche nach seinem Vater hat Anatoly Rothe über Jahre immer wieder beschäftigt. Dabei musste er manchmal auch ungewöhnliche Wege beschreiten:
"Ich habe im Heimatmuseum angerufen: Gibt es irgendetwas aus dieser Zeit. Und dann hat der gesagt: Ich muss mal gucken. Ja, na klar, haben wir hier. Ich schicke ihnen das zu. ... Und das haben die gemacht, und das haben die aufgeschrieben, und da haben die sogar Fotos vom Kommandanten meines Vaters. Und da habe ich mich natürlich darüber gefreut, dass das da so sichtbar wurde. Solche Sachen kann man machen."
Das Problem ist, dass viele Kinder nur wenig über ihre Herkunft wissen. Das erschwert die Suche.
"Die ersten Fragen sind: Welche Angaben haben sie zu ihrem Vater? Und da geht schon die erste Weiche auseinander. Wenn er den Namen des Vaters hat, dann wird folgendes gemacht, dann wird gesagt, schreiben sie an das Archiv an Podolsk von der Armee. Dann schreibt er seinen Antrag oder er sagt: Naja, was soll ich denn da schreiben? Dann geben sie bitte die Angaben her, wir machen das für sie."
Wenn er den Namen nicht hat, dann wird es schwierig. Dann muss man andere Wege gehen. Dann sagen wir: Versuchen sie erstmal irgendwie mit ihrer Familie zu reden, ob es nicht irgendwelche Anhaltspunkte noch gibt.
Vielleicht finden die inzwischen erwachsenen Kinder keinen Vater, vielleicht finden sie ein Grab. Kein Grund, die Suche nicht zu wagen, meint Anatoly Rothe:
"Wenn man also die Angaben zum Vater hat und man trifft die Familie, das sind wirklich bewegende Momente. Für alle. Das werden sie im Leben nie wieder vergessen. Das werden sie ihren Kindern erzählen und ihren Enkeln. Deswegen kann ich jedem nur sagen: Macht euch auf den Weg, sucht eure Familien."
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