Kinder instrumentalisiert für politisches Kalkül

Von Bernd Ulrich · 27.09.2005
Heute vor 65 Jahren ordnete Adolf Hitler die so genannte Kinderlandverschickung an, eine der größten Evakuierungsaktionen während des 2. Weltkriegs. Annähernd zwei Millionen Kinder und Jugendliche aus bombengefährdeten Gebieten und Städten wurden in Lagern oder bei Pflegefamilien untergebracht. Was sich fürsorglich gab, war zugleich der groß angelegte Versuch, die ideologische Beeinflussung auszuweiten.
"Mit der Zunahme der Luftangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung im September 1940 wurde auf Befehl des Führers zur Sicherung des Lebens und der Gesundheit unserer Jugend und unserer Mütter aus den besonders gefährdeten Gebieten die erweiterte Kinderlandverschickung durchgeführt. Im Rahmen dieser Aktion wurden eineinhalb Millionen Kinder und über 150 000 Mütter mit rund 65 000 Säuglingen und Kleinkindern zur Erholung aufs Land geschickt. Zur Verschickung dieser Personen waren rund 2000 Sonderzüge erforderlich."

Als Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Februar 1942 mit gewohntem Pathos eine vorläufige sozialpolitische Bilanz des NS-Regimes im Krieg zog, durfte die am 27. September 1940 erlassene Verordnung zur Kinderlandverschickung natürlich nicht fehlen. Goebbels nutzte ihre Erwähnung nicht allein, um sie mit so sensationellen wie gigantischen Zahlen, mit gleichsam menschlichen Produktionsziffern zu garnieren. Er verwies darüber hinaus auch auf die Lage der Kinder in der eben erst von der Wehrmacht überfallenen Sowjetunion:

"Die Größe dieser Leistung wird einem besonders deutlich, wenn man sich vorstellt, dass sich in der Sowjetunion zwei Millionen Kinder verwahrlost im Lande herumtreiben und von wildem Raub und Diebstahl leben."

Schon in diesen kurzen Redeausschnitten wird die ganze barbarische Logik des NS-Unrechtssystems deutlich. Die Sorge um die sowjetischen Kinder in diesem ersten russischen Kriegswinter war natürlich nur vorgetäuscht. Zum Zeitpunkt der Goebbelsrede hatte der unterschiedslose Mord an der sowjetischen Zivilbevölkerung längst begonnen. Und auch die "Landverschickung" deutscher Kinder, die vor den Auswirkungen des von Deutschland selbst entfesselten Weltkriegs geschützt werden sollten, verdankte sich anderen, kaum offen eingestandenen Motiven. "Vielmehr sollte zum einen", wie der Historiker Gerhard Kock in seiner Studie zur Kinderlandverschickung bemerkt,

"kaschiert werden, dass die bestehenden Luftschutzeinrichtungen vollkommen unzureichend waren. Zum anderen glaubte man, auf diese Weise die Fürsorgebereitschaft des NS-Staates dokumentieren zu können. Dies war umso notwendiger, als die Bevölkerung darauf vorbereitet werden musste, dass der Krieg wohl über den Winter 1940/41 hinaus andauern würde."

Überdies waren die Kinderlandverschickungen ein probates Mittel, um vor allem die Jugendlichen in Zeltlagern oder Schullandheimen der ideologischen Beeinflussung und einem durch die Hitlerjugend paramilitärisch organisierten Alltag auszusetzen. Dennoch haben viele der verschickten Kinder und Jugendlichen aus industriellen Ballungsräumen und Großstädten ihre Zeit fern von den Eltern genossen. Dies traf besonders für die Kleinkinder bis zehn Jahren zu. Denn sie wurden zumeist an Pflegefamilien in ländlichen Gebieten vermittelt und behielten diesen Abschnitt als eine Mischung aus Ferien auf dem Bauernhof, guter Verpflegung und bombenfreien Tagen und Nächten ihr Leben lang in guter Erinnerung. Andere litten unter Heimweh oder, namentlich in den Lagern, unter dem Drill und der gleichsam verordneten Kameradschaft. Zudem begann im Sommer 1943, mit der Zunahme alliierter Luftangriffe, die Verschickung ganzer Schulklassen und schließlich kompletter Schulen. Mutmaßlich, denn genaue Zahlen gibt es bis heute nicht, durchliefen 850 000 Jugendliche und mehr als eine Million Säuglinge und Kleinkinder in Pflegefamilien und Mutter-und-Kind-Heimen die Kinderlandverschickung. Immer wieder begleitet von Artikeln und Reden des Reichsjugendführers und späteren Statthalters in Wien, Baldur von Schirach, der als der eigentliche Initiator der "Evakuierung" gilt:

"Der Führer sorgt für unsere Kinder. In diesem Bewusstsein dürfen wir alle beruhigt und dankbar die nicht mehr lange Zeit auf uns nehmen bis zum Sieg, der auch die Kinder wieder in die schönste und beste Erziehungsgemeinschaft der Nation zurückführt: ins deutsche Elternhaus!"

Bis dahin war es allerdings für viele Kinder und Jugendliche ein weiter Weg. Vor allem die in die damals östlichen Teilen Deutschlands Evakuierten gerieten gegen Kriegsende zwischen die Fronten. Manche kehrten erst 1946 zurück in das, was vom Elternhaus noch übrig war.