Kinder aus Mittelamerika

Die vergessenen Flüchtlinge

Wenn die Flucht geglückt ist: Minderjährige Flüchtlinge aus Mittelamerika  haben es in Kalifornien schwer.
Wenn die Flucht geglückt ist: Minderjährige Flüchtlinge aus Mittelamerika haben es in Kalifornien schwer. © picture alliance / dpa / Jerzy Dabrowski
Von Kerstin Zilm · 28.10.2015
Viele Eltern aus Guatemala, El Salvador und Honduras schicken ihre Kinder in die USA. Sie wollen ihnen damit ein Leben geprägt von Gangs und Drogenhandel ersparen. In den Vereinigten Staaten erwartet die jungen Flüchtlinge ein harter Kampf um Asyl.
Victor Nunez sitzt im Büro von "El Rescate", einer Organisation, die Einwanderern aus Mexiko und Mittelamerika preiswerte Rechtsberatung gibt. Er trägt Jeans, ein rotes T-Shirt, Kopfhörer und kaut Kaugummi. Der 16-Jährige kam vor einem Jahr aus El Salvador in die USA - ohne Papiere. In ein paar Tagen hat er seinen nächsten Termin vor Gericht. Die Richterin hat angekündigt, über seinen Asylantrag zu entscheiden.
"Ich bin wegen der wachsenden Kriminalität und der vielen Gangs in meinem Land gekommen. Sie haben mich mit einem Messer bedroht, wollten mich zwingen, für sie zu arbeiten. Sie haben mehrmals gedroht, mich umzubringen. Deshalb hat meine Mutter beschlossen, mich her zu holen."
Bei "El Rescate" berät ihn Anwältin Yanci Montes. Sie sieht viele Fälle wie den seinen, nicht erst seit dem vergangenen Sommer. Eltern schicken ihre Kinder aus dem sogenannten mittelamerikanischen "Nördlichen Dreieck" in die USA. Sie hoffen, ihnen damit ein Leben geprägt von Gangs und Drogenhandel zu ersparen. In den vergangenen Jahren vermeldeten diese Staaten weltweit die meisten Morde pro Einwohner.
"Es gibt so viel Gewalt in Guatemala, El Salvador und Honduras. Es ist eine humanitäre Krise. Diese Kinder verdienen, in den Vereinigten Staaten zu bleiben und Asyl gewährt zu bekommen. Sie wurden verfolgt und die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder passieren wird, ist hoch."
Victors Mutter Lidia flüchtete selbst vor 15 Jahren aus El Salvador nach Kalifornien. Victor war damals knapp zwei Jahre alt. Selbst von dem wenigen Geld, das sie auf dem Markt verdiente, verlangten die Gangs ihren Anteil. Es reichte nie für Essen, Kleidung und Schulmaterial. Lidia ließ Victor bei der Großmutter zurück und schickte aus Los Angeles Geld zu ihnen.
Vor drei Jahren beauftragte Lidia zum ersten Mal einen Schlepper, Victor nach Kalifornien zu bringen. 4000 Dollar verlangte der Mann - ihre gesamten Ersparnisse.
Lidia Nunez erzählt die Geschichte in ihrer kaum möblierten Wohnung. Vier Plastikstühle um einen runden Küchentisch, ein Bücherregal mit Schnickschnack im Wohnzimmer. Die rundliche Frau, das dunkle Haar zum lockeren Dutt zusammengesteckt, erinnert sich, wie sie im Sommer 2012 tagelang auf Nachrichten von ihrem Sohn wartete. Dann kam ein Anruf aus Guatemala - aus einem Quartier des Drogenkartells Los Zetas. Der Schlepper hatte Victor an das Kartell verkauft.
"Sie haben mich um Mitternacht angerufen, dann morgens, die ganze Zeit. Sie verlangten 10.000 Dollar und drohten ihn umzubringen. Ich habe sie gebeten, mir mehr Zeit zu geben. Dann wollten sie 5000 Dollar. Die konnte ich auch nicht auftreiben. Am Ende haben sie ihn für 3500 Dollar freigelassen."
Nunez musste sich dafür von Verwandten und Freunden Geld leihen. Die Kidnapper entließen Victor auf die Straßen von Guatemala City. Ein Onkel brachte ihn zurück nach El Salvador.
"In ihrer Heimat beschützt sie niemand vor den Gangs"
Victors zweiter Fluchtversuch gelang. Versteckt in Autos, Lastern und Bussen erreichte er im Juni 2014 Texas. An der Grenze griffen ihn Immigrationsbehörden auf.
"Sie brachten mich in ein Haus wie ein Gefängnis. Sie nennen es Kühlschrank, weil es so kalt ist. Ich habe kaum gegessen und viel geschlafen. Das Essen war schlecht. Ich habe nie Tageslicht gesehen. Da war ich anderthalb Wochen."
Lidia wird jetzt noch blass, wenn sie sich an den Anruf einer Vertreterin der Immigrationsbehörden erinnert. Auch sie kam illegal in die USA und hat bis heute keine Papiere. Seit ihrer Ankunft im Jahr 2000 hatte sie alles getan, um nicht aufzufallen.
"Ich hatte große Angst in dem Moment, aber ich dachte: Er ist mein Sohn! Ich habe ihn herbringen lassen, weil sie ihn in El Salvador umbringen wollen. Schließlich hat mir die Sozialarbeiterin gesagt: Herzlichen Glückwunsch! Wir werden Ihnen Ihren Sohn übergeben. Ich war so glücklich!"
Lidia Nunez zahlte 1000 Dollar für Gebühren und Victors Flug von Texas nach Los Angeles. Dann konnte sie ihn endlich umarmen und mit nach Hause bringen.
Bei "El Rescate", der Rechtshilfeorganisation für Einwanderer, bereitet Anwältin Montes Victors nächsten Gerichtstermin vor. Sie sagt, die Chancen, dass die Richterin seinen Asylantrag bewilligt, stehen fünfzig zu fünfzig.
"Es ist schwer, weil der Staatsanwalt immer gegen uns argumentieren wird. Wenn wir sagen, sie fliehen wegen der Gangs in ihrer Heimat oder wegen organisierter Kriminalität in Guatemala, El Salvador, Honduras oder Mexiko, sagen sie: Es gibt auch in den USA Gangs. Wir halten dagegen: Aber in ihrer Heimat beschützt sie niemand vor den Gangs. Hier können sie die Polizei um Hilfe bitten."
Der Anwältin bleibt nicht viel Zeit, sich in einzelne Fälle einzuarbeiten. In ihrem Büro stapeln sich Kisten voller Akten über schwebende Verfahren von minderjährigen Einwanderern.
Dasselbe Problem haben Immigrationsrichter. Davon gibt es in den USA 247. Sie bearbeiten derzeit mehr als 70.000 Fälle von minderjährigen Flüchtlingen. Plus über 350.000 Anträge von Erwachsenen. Im Durchschnitt dauern Abschiebeprozesse für Kinder und Jugendliche in den USA derzeit ein Jahr und acht Monate. In Los Angeles sind es fast zwei Jahre. Die Richter kommen mehr und mehr in Rückstand.
Dana Leigh Marks, Präsidentin der US-Vereinigung für Immigrationsrichter, sagt: Eine angemessene Behandlung der Fälle ist ohne Aufstockung von Personal nicht gesichert.
"Die Zahl der Verfahren steht in keinem Verhältnis zu dem, was realistischerweise von uns erwartet werden kann. Ich sage immer: Wir sind gezwungen, über Todesstrafen unter Bedingungen eines Verkehrsgerichtes zu entscheiden. Bei Asylanträgen kann es um Leben und Tod gehen."
US-Präsident Barack Obama hat angeordnet, Immigrationsprozesse von Kindern und Jugendlichen aus Mittelamerika beschleunigt zu bearbeiten. Denen stehen in der Regel zwei Wege zur Aufenthaltsgenehmigung offen: Asyl oder Sonderstatus als Jugendliche, die von der Familie verlassen, vernachlässigt oder missbraucht wurden.
Das Rechtsverfahren beginnt, sobald die Kinder an der Grenze aufgefangen werden. Anwältin Yanci Montes:
"Noch im Internierungslager müssen sie einem Asyl-Beamten glaubhaft darstellen, dass sie Angst davor haben, in ihre Heimat abgeschoben zu werden. Gelingt ihnen das, können sie ihren Fall vor Gericht bringen."
Der Nachweis der Verfolgung ist schwer zu erbringen
Auch Lidia Nunez versuchte zuerst, ohne Rechtsbeistand ein Bleiberecht für ihren Sohn Victor zu erwirken. Die Richterin riet ihr beim ersten Termin, sie solle zur nächsten Anhörung nicht ohne Anwalt erscheinen und verschob die Anhörung um ein paar Monate.
Rund die Hälfte aller jungen Flüchtlinge versuchen, das Asylverfahren ohne Hilfe von Profis zu meistern. Laut US-Anwaltskammer werden 85 Prozent von ihnen abgeschoben. Sie müssen beweisen, dass sie zu Hause verfolgt wurden oder dass ihnen Verfolgung droht, wenn sie zurückkehren. Das ist schwer, erklärt Immigrationsanwältin Yanci Montes.
"Wenn diese Kinder ihr Land verlassen, haben sie meist nicht einmal Zeit für einen Polizeibericht. Selbst wenn sie Zeit haben, gehen sie nicht zur Polizei, weil sie Angst vor den Gangs haben, die sie verfolgen. Die bedrohen sie, foltern sie, bringen sie sogar um, wenn sie zur Polizei gehen. Die Kinder kommen ohne jegliche Beweise. Wir haben nur ihre Zeugenaussage, schriftlich und mündlich. Wir fügen meist Zeitungsartikel und Zahlen über die Lage in ihrer Heimat an. Das ist alles."
Keine Chance auf Bleiberecht haben die Flüchtlinge, die nie vor einem Gericht erscheinen, sondern untertauchen. Verpassen sie ohne Entschuldigung einen Gerichtstermin, ordnen Richter in ihrer Abwesenheit die Abschiebung an.
Seit Juli 2014 haben US-Richter knapp 7500 Abschiebungen angeordnet, meldet das US-Justizministerium. In fast neunzig Prozent der Urteile passierte das in Abwesenheit der jungen Flüchtlinge. Ob diese Kinder tatsächlich das Land verlassen haben, ist nicht klar.
Politiker streiten unterdessen im Kongress über finanzielle Mittel für Unterkünfte und Schulen, für rechtliche und psychologische Hilfe, für beschleunigte Verfahren und verstärkte Grenzkontrollen. Auch undokumentierte Einwanderer haben in den USA ein Recht auf Unterricht und medizinische Grundversorgung.
Republikaner im US-Kongress verlangen mehr Grenzkontrollen und schnellere Abschiebungen. Außerdem fordern sie, öffentliche Mittel für die Eingliederung der Minderjährigen in die Gesellschaft zu kürzen.
Senator Jefferson Sessions, Mitglied des Immigrationsausschusses:
"Wir sind keine humanitäre oder religiöse Organisation. Wir sind unseren Wählern verpflichtet, in ihrem Interesse zu handeln. Das tun wir nicht, wenn wir diese Gesetzlosigkeit weiter zulassen. Wir verbreiten eine schlechte Botschaft, nämlich die, dass unsere Grenzen offen sind und illegale Einreise letztendlich belohnt wird."
Demokraten argumentieren dagegen für mehr Mitgefühl gegenüber den jungen Neuankömmlingen. Senator Richard Blumenthal, Sprecher für Immigrationspolitik:
"Mehr als 1000 Kinder wurden in Honduras allein im Jahr 2014 umgebracht. 724 Kinder wurden letztes Jahr in El Salvador getötet und 156 allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres in Guatemala. Kinder sind unschuldige Opfer von Gangs, die sich bekriegen. Sie bleiben ungeschützt, haben sich die Situation nicht ausgesucht und keine Kontrolle über sie. Und wir debattieren, ob die USA zu viel tun, um diese Kinder zu retten. Es ist eine Schande."
"Da war überall Blut. Viele hässliche Sachen sind passiert"
Lautstarke Proteste gab es im Sommer 2014 gegen junge Einwanderer aus Mittelamerika vor Flüchtlingsheimen und Auffanglagern. Inzwischen sind sie weitgehend verstummt. Auch aus den Schlagzeilen ist das Thema "Minderjährige Einwanderer" fast vollständig verschwunden.
Hilfsorganisationen arbeiten abseits des Scheinwerferlichts daran, den Kindern und Jugendlichen das Leben in den USA zu erleichtern.
In Los Angeles gibt es inzwischen ein weit gespanntes Netzwerk aus religiösen und anderen Unterstützergruppen. Im "Casa Libre", einer gotischen Villa nahe Downtown Los Angeles, bekommen 14 Jungs ein Zimmer, Nachhilfeunterricht, rechtliche und psychologische Hilfe. Teenager lernen im Wohnzimmer an Computern Englisch.
Einer von ihnen hat seine weiße Baseballkappe über die Augen nach unten gezogen. Er nennt sich "Jesus" und ist 17 Jahre alt. Anwälte raten ihm, seinen richtigen Namen nicht zu sagen solange er im Asylverfahren ist. Auch er kam im vergangenen Sommer aus El Salvador nach L.A.
Unterwegs kidnappten ihn Mitglieder eines Drogenkartells.
"Sie haben mich in einem Van zu einem Haus gebracht. Ich habe nie Tageslicht gesehen. Da war überall Blut. Viele hässliche Sachen sind passiert. Die Typen sind sehr gefährlich. Sie haben gemerkt, dass ich kein Geld habe, mich zur Grenze gebracht und den Immigrationsbehörden übergeben."
Neben Jesus sitzt Cristian - schlaksig, kaum 1,60 Meter groß. Er flüchtete vor Armut und Gewalt in Guatemala. Im "Casa Libre" fand er eine neue Familie. Was er auf der Reise in die USA erlebt hat, wird er nie vergessen:
"Einmal warteten wir zwei Tage auf einem Feld in Mexiko ohne Essen, ohne Decken auf unseren Schlepper. Später haben sie uns in einem Laster in eine versteckte Kammer gezwängt. Es gab nur ein sehr kleines Fenster. Wir standen zusammengepfercht acht Stunden lang ohne Pause!"
"Casa-Libre"-Direktor Federico Bustamante wünscht, er könnte mehr Kindern helfen. Platz genug gibt es dafür in der Villa, doch es fehlt das Geld. Bustamante ist sicher: Minderjährige werden aus Mittelamerika in die USA kommen, bis sie zu Hause keine Gewalt mehr fürchten müssen.
"Morgens Leichen sehen, zur Schule vorbei an Leichen gehen und solange ihre Verwandten verschwinden, ohne dass das jemanden interessiert, wird das passieren."
Victor Nunez, der 16 Jahre alte Junge aus El Salvador, hat unterdessen seinen Gerichtstermin. Anwältin Yanci Montes ist nervös. Lidia Nunez hat ihr eine Textnachricht geschickt: Victor ist in der Schule. Sie selbst steckt fest im Verkehr. Erscheint sie nicht, droht Victor ein Urteil auf Abschiebung in Abwesenheit. Kurz bevor die Richterin Victors Fall aufruft, stolpert Lidia in den Gerichtssaal. Eine Sandale ist kaputt, ihre Haare fliegen in alle Richtungen.
Dann geht alles sehr schnell. Die Anwältin legt ein Papier vor: Ein US-Familiengericht hat vier Tage zuvor Lidia das alleinige Sorgerecht für Victor zugesprochen. Die Richterin schaut kurz auf das Dokument, setzt einen Stempel darunter - der Prozess ist beendet. Die Anhörung dauerte keine fünf Minuten.
"Victors Fall wurde heute im Immigrationsgericht abgeschlossen. Ihm wurde der Sonderstatus als Jugendlicher eingeräumt und er wird seine Green Card demnächst in der Post bekommen."
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