Aus den Feuilletons

Polen ist eine Literatur-Supermacht

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Die polnische Autorin Olga Tokarczuk steht im Vorfeld einer Lesung an einem Bücherregal.
Die „NZZ“ schwärmt, Olga Tokarczuk setze mit ihrem innovativen Schreibstil nicht nur Maßstäbe für die polnische, sondern auch für die Weltliteratur. © picture alliance/Friso Gentsch/dpa
Von Arno Orzessek · 10.10.2019
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Mit der Auszeichnung für Olga Tokarczuk geht erneut ein Literaturnobelpreis nach Polen. Das Land hat öfter gewonnen als Österreich, das mit Peter Handke erst seinen zweiten Preis einheimste. "Polen ist eine literarische Supermacht", schlussfolgert die "NZZ".
Für die Tageszeitung DIE WELT sind Peter Handke und Olka Tokarczuk "Die neue Doppelspitze". Eine ziemlich vermurkste Metapher für einen Künstler und eine Künstlerin, deren Namen ohne den Literaturnobelpreis vielleicht nie in einem Atemzug genannt worden wären.
Aber nun. Das wortgewaltigste Kurz-Porträt Peter Handkes steht im BERLINER TAGESSPIEGEL. Laut Gregor Dotzauer ist Handke:
"Ein weltberühmter Autor, den nur noch Eingeweihte lesen. Ein Heiliger Franziskus aus der Pariser Vorstadt, der mit den Bienen und Pilzen spricht. Der eremitische Fürst eines Friedens, der den geliebten Bleistift zornesrot in einen tödlichen Speer verwandeln kann. Ein großer Wanderer, der am Wegesrand bei Tag mystische Dingkonstellationen erkennt, deren Kraft sich auch auf den Leser überträgt. Und ein Visionär, der seine einzigartige Divinationsfähigkeit sofort verliert, wenn er sich über das Tatsächliche erhebt und Gegenwelten einklagt, wo ein klares Urteil über die Wirklichkeit gefordert ist."
Dass man sich auch weniger ekstatisch artikulieren kann, beweist Elfriede Jelinek in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Die Preisträgerin von 2014 würdigt Handke mit den schnoddrig-ironischen Worten:
"Er hätte ihn auf jeden Fall früher als ich bekommen müssen. Er wäre längst dran gewesen. Aber was lange währt, wird endlich gut. Der Volksmund hat immer recht. Und jetzt hat es auch einen Preisträger bekommen, auf den es endlich stolz sein kann, das dazugehörige Volk. Er ist ein Meister, ein lebender Klassiker. Da gibt es gar keine Diskussion."

Tokarczuks Glaube an die Natur

Die TAGESZEITUNG ist das einzige Blatt, das die Würdigung Olga Tokarczuks vor die Würdigung Peter Handkes stellt. Oder genauer: Sie wird auf der TAZ-Seite oben gewürdigt, er unten:
"Es ist vor allem der Glaube an die Natur (auch die des Menschen), der in Tokarczuks Romanen immer wieder Gestalt annimmt. Ein Glaube, der ihr den Wechsel der Perspektive ermöglicht wie kaum einer anderen. Eine Kraft, die etwas Mythisches hat, so wie ihr früher Roman ‚Ur und andere Zeiten‘, in dem sie in eindrucksvollen Bildern einen Bogen der Geschichte Polens von 1914 bis heute schlägt. Geburt, Leben, Sterben, der Lauf der Dinge eben." So Uwe Rada in der TAZ.
"Polen ist eine literarische Supermacht", behauptet die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG. Ulrich M. Schmid führt zum Beweis die bisherigen polnischen Literaturnobelpreisträger* an und lobt:
"Mit Olga Tokarczuk wird eine herausragende literarische Stimme geehrt. Ihr Werk zeigt in exemplarischer Weise, welch innovative Formen künstlerisches Erzählen annehmen kann. Damit setzt sie nicht nur neue Massstäbe für die polnische Literatur, sondern auch für die Weltliteratur."

Handkes Spätwerk ist leichter

Zurück zu Handke, über den die deutschsprachigen Feuilletons erkennbar besser im Bilde sind als über Tokarczuk. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG hält Hubert Spiegel fest:
"Kindlich stolz ist Handkes Anspruch, der Hüter der Sprache zu sein, der Wächter der wahren Empfindungen, ein Unzeitgemäßer, in dessen Spätwerk plötzlich auch ganz unerwartete Töne auftauchen. Seit ‚Kali. Eine Vorwintergeschichte‘ (2007) und ‚Die morawische Nacht‘ wurde Handke ein wenig leichter, spielerischer, zuweilen sogar selbstironisch. Der früher oft gravitätisch tönende Hohepriester der erzählenden Prosa spielte nun auch mit Märchenklängen." Hubert Spiegel in der FAZ.
Unterdessen betont Mara Delius in der WELT, dass die beiden Nobelpreise nach den Akademie-Skandalen von besonderer Bedeutung sind:
"Die Antwort auf die Frage, wozu es den Nobelpreis gibt, lautet also in diesem Jahr: Nein, eben nicht einfach dafür, große Literatur auszuzeichnen, sondern um einen Akt der Selbstreinigung und Selbstversicherung zu vollbringen; ein Paradox des Schuldabbaus, das gleichzeitig rückwärts und vorwärts will."
Wussten Sie übrigens, dass Olga Tokarczuk und Peter Handke zusammen wohnen? Okay, nicht leiblich! Wohl aber an dem Ort, dessen Name in einer FAZ-Unterzeile auftaucht - nämlich dem "Wohnort Sprache".

* In einer früheren Version dieses Beitrags wurde bei der Aufzählung der polnischen Gewinner des Literaturnobelpreises der Schriftsteller Władysław Reymont (Preisträger 1924) nicht berücksichtigt. Die anderen geehrten Autorinnen und Autoren waren Henryk Sienkiewicz (1905), Czesław Miłosz (1980) und Wisława Szymborska (1996). Isaac Bashevis Singer (1978) wird je zur Hälfte als Pole und US-Amerikaner gezählt.
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