Khost in Afghanistan

Wo der Drohnenkrieg der USA im Schatten tobt

In der Luft über Gebirge fliegt eine Kampfdrohne der USA.
Eine Kampfdrohne des US-Militärs im Einsatz. © dpa picture alliance / Tsgt Effrain Lopez
Von Emran Feroz  · 14.09.2017
In der Provinz Khost im Osten Afghanistans gehören Drohnenangriffe der USA seit 2001 zum Alltag. Tausende Menschen wurden so aus der Luft getötet. Die Befehle werden auch über die Basis Ramstein in Deutschland geleitet. Die Folgen im Land sehen wenige.
Abdul Hadis Haus liegt mitten in der Stadt Khost. Die Atmosphäre in dem Viertel ist laut und lebendig. Autos fahren die Straße entlang, Menschen schlendern zum Basar. Khost ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und liegt im Osten Afghanistans an der Grenze zu Pakistan.
Ein kleiner Lastwagen rollt über die Straße in Khost. Zwei Männer laufen in langen Gewändern daneben.
Die Stadt Khost im Osten Afghanistans.© Emran Feroz
Eine rund vierstündige Autofahrt von Kabul ausgehend ist notwendig, um das Zentrum der Stadt zu erreichen. Früher war der Weg fast doppelt so lang. Doch in den letzten Jahren wurden neue Straßen gebaut, die die Reise erleichtern.

Der Vater wurde von einer US-Drohne getötet

Als Abdul Hadi die Tür aufmacht, wirkt er schüchtern. Er serviert Tee und wundert sich, dass ihn jemand nur aufgesucht hat, um mit ihm über seinen Vater, Hajji Delay, zu sprechen.
Delay wurde im Mai 2014 durch einen US-amerikanischen Drohnenangriff getötet. Eine Hellfire-Rakete traf den Wagen Delays, der vollkommen ausbrannte – er und vier weitere Insassen waren sofort tot. Sie waren allesamt Zivilisten.
Wie viele Afghanen, die sich ein Auto – zumeist einen Toyota Corolla älteren Jahrgangs – leisten konnten, verdiente der 45-jährige Hajji Delay seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer. An jenem Tag war er mit seinem Fahrgästen auf dem Weg in den naheliegenden Distrikt Ali Sher.
Seit Beginn des NATO-Einsatzes im Jahr 2001 gehören Drohnenangriffe zum Alltag in Afghanistan. Tausende solcher Angriffe fanden seit jeher im Land statt. Laut dem Bureau of Investigative Journalism, einer in London ansässigen Journalisten-Gruppierung, die den US-Drohnenkrieg beobachtet, ist Afghanistan das "am meiste von Drohnen bombardierte Land der Welt".

Wen die Drohnen töten, ist oft unbekannt

Die Drohnen, so heißt es, sind präzise Waffensysteme, die ausschließlich "Terroristen" töten. Doch die Realität ist eine andere. In den allermeisten Fällen sind die Identitäten der Opfer völlig unbekannt.
Allein für den Zeitraum Januar 2015 bis August 2017 zählt das Bureau in London über 4.000 Todesopfer und über 260 getötete Zivilisten. Die absolute Mehrheit der Drohnenopfer bleibt unbekannt. Sie sind namen- und gesichtslos – und oftmals Zivilisten wie Hajji Delay.
2012 wurde bekannt, dass laut dem Weißen Haus jede männliche Person im "wehrfähigen Alter" im Umfeld eines Drohnenangriffs als "feindlicher Kombattant" gilt. Nach dieser Definition ist fast jeder Afghane, auch Abdul Hadis Vater, ein Terrorist.
Selbiges gilt auch für alle Menschen in anderen Ländern, die von den US-Drohnen terrorisiert werden. Unter anderem betrifft das Staaten wie Jemen, Somalia, Pakistan, Irak und Syrien.
2016 veröffentlichte das Weiße Haus erstmals Angaben dazu. In einem dreiseitigen Papier wurde erklärt, dass US-Drohnen während der Präsidentschaft Barack Obamas zwischen 64 und 116 Zivilisten und 2.372 bis 2.581 "terroristische Kämpfer" getötet hätten. Afghanistan, Irak und Syrien waren allerdings in dem "Bericht" nicht eingearbeitet. Hajji Delay und jene, die mit ihm starben – ebenfalls in der Amtszeit Obamas – waren für das Weiße Haus praktisch nicht existent.
Von einem Berg auf die Stadt Khost am Abend geschaut - Berge im Hintergrund.
Ein abendlicher Blick auf die afghanische Stadt Khost nahe der Grenze zu Pakistan.© Emran Feroz

Der Tag der Tötung von Hajji Delay

Abdul Hadi erinnert sich, wie sein Vater früh am Morgen das Haus verließ. Er wollte, seinem Sohn Bescheid geben, sobald er in Ali Sher angekommen ist. Stundenlang wartete Abdul Hadi auf den Anruf seines Vaters. Zeitgleich hörte er von einem Luftangriff des US-Militärs, der gegen acht Uhr morgens geschehen sein soll – rund eine Stunde nachdem Hajji Delay das Haus verlassen hatte. Als er hörte, dass der Angriff sich auf der Straße nach Ali Sher ereignet hatte, ahnte er Schreckliches.
Irgendwann klingelte sein Telefon. Ein Freund Abdul Hadis war am Hörer. "Ich habe gehört, dass dein Vater getötet wurde. Es tut mir schrecklich leid", teilte ihm dieser mit. Erst durch diesen Anruf erfuhr Abdul Hadi, dass Hajji Delays Auto von der Drohne getroffen wurde. Kurz nach dieser erschütternden Nachricht begab er sich mit einigen Verwandten nach Ali Sher, um seinen Vater zu bergen.
"Er wollte dort für das anstehende islamische Opferfest einkaufen und mich anrufen, sobald er in Ali Sher sei. Auf dem Weg dorthin ereignete sich das Bombardement. Mit ihm waren vier weitere Menschen, die allesamt getötet wurden. Alle Opfer waren Zivilisten."
Abdul Hadi erinnert sich, dass das Auto seines Vaters vollkommen ausgebrannt gewesen ist und die Gesichter der Leichen fast nicht mehr erkennbar waren. Die Überreste von Hajji Delay wurden in ein Tuch gelegt und schnell beerdigt. Dasselbe geschah mit den Leichenteilen der anderen Toten, deren Familien ebenso hilflos waren wie jene Abdul Hadis.
Warum wurde ausgerechnet Hajji Delays Wagen zum Ziel der Amerikaner? Warum wussten all diese unschuldigen Menschen sterben? Es waren diese Fragen, die aufkamen und die allen durch den Kopf gingen. Doch Abdul Hadi wusste, dass sie unbeantwortet bleiben werden – und er behielt mit dieser Annahme recht.

Plötzlich war Abdul Hadi das Familienoberhaupt

Sobald der junge Afghane vom Tod seines Vaters spricht, fällt auf, wie schwer er noch traumatisiert ist. Während in westlichen Staaten in der "ersten Welt" etwa nach schweren Unfällen psychologische Teams im Einsatz sind, um traumatisierte Menschen zu behandeln, war Abdul Hadi auf sich allein gestellt. Er musst die verbrannten Leichenteile seines Vaters selbst in ein Tuch wickeln und beerdigen.
Mit 22 Jahren war Abdul Hadi der älteste Sohn der Familie. Mit dem Tod seines Vaters wurde er zum Familienoberhaupt. Es lag nun ausschließlich an ihm, seine Familie – seine Mutter und seine kleinen Geschwister – zu ernähren.
Abdul Hadi ist sich bewusst, dass diese Bürde ein Leben lang auf seinen Schultern liegen würde. Schon oft war er der Verzweiflung nahe.
Er arbeitet, wie er sagt, mal hier und mal da. Hauptsache, es kommt ein wenig Geld ins Haus. Zur Zeit ist Abdul Hadi unter anderem als Haushaltshilfe in einem Regierungsbüro tätig, wo er putzt, kocht und Tee serviert. Dem jungen Afghanen bleibt keine andere Wahl. Mit der Ermordung seines Vaters hat er dessen Pflichten übernommen.
Auf der Einkaufsstraße in Khost stehen Händler mit Kleiderständern, die Häuser sehen kaputt und marode aus.
Eine Einkaufsstraße in der afghanischen Stadt Khost.© Emran Feroz
Derartige Szenarien sind keine Seltenheit. Es gibt sie oft, wenn irgendwo im "afghanischen Nirgendwo" wieder einmal eine Drohne eingeschlagen hat. Während die Piloten der unbemannten Todesmaschinen oftmals in weit entfernten Basen in Nevada oder anderswo sitzen und meinen, einen weiteren "Bösewicht" getötet zu haben, werden in den betroffenen Ländern die Existenzen ganzer Familien zerstört.

Kein Interesse der Regierung oder von NGOs

Nach dem Drohnenangriff und der Beerdigung seines Vaters hatte Abdul Hadi Angst, sich an die Provinzregierung zu wenden. Denn schließlich hat Washington seit 2001 das Sagen - nicht nur in Kabul. Trotz des "ersten demokratischen Machttransfer in der Geschichte", wie die US-Regierung 2014 sagte. Das habe nichts an der Lage geändert: Neben dem Krieg und der katastrophalen Sicherheitslage machen auch die Korruption, Polizeigewalt und die Ignoranz der Regierung einfachen Leuten wie Abdul Hadi das Leben schwer.
"Mein Vater wurde ermordet. Doch meiner Familie half niemand. Weder die Regierung noch irgendeine Menschenrechtsorganisation zeigten Interesse an dem, was uns widerfahren ist. So etwas passiert hier oft. Bei solchen Drohnenangriffen werden regelmäßig Zivilisten getötet."

Eine CIA-Miliz sorgt für Angst

Besonders problematisch sind in Khost allerdings die Männer der Khost Protection Force, kurz KPF. Die KPF ist eine lokale Milizgruppierung, die völlig unabhängig von der afghanischen Armee handelt und der CIA – dem US-amerikanischen Geheimdienst – untersteht.
Bereits am Stadtrand von Khost patrouillieren die schwer bewaffneten Milizen, die mit modernstem Gerät ausgerüstet sind. Sie kontrollieren jedes Fahrzeug gründlich und wirken dabei sehr einschüchternd. Niemand will, hier auf irgendeine Art und Weise auffallen. Alle Kämpfer der KPF stammen aus der Region, sie sprechen den lokalen Paschto-Dialekt und bemerken dadurch sofort, wenn jemand Fremdes in die Stadt gelangt ist.
"Viele Menschen haben Angst, sich nach derartigen Angriffen an die Regierung zu wenden. Sie befürchten, dass sie zusätzliche Probleme bekommen oder in eine missliche Lage geraten."
Trotz seiner Bedenken wandte sich Abdul Hadi schließlich an die lokale Regierung in Khost. Er wollte von den Offiziellen wissen, warum das Auto seines Vaters – eines unschuldigen Mannes – von einer Drohne bombardiert wurde. Den Regierungsbeamten und das Militär wussten von dem Angriff. Der Wille zu Helfen war allerdings nicht da.
"Es gab eine kurze Entschuldigung, mehr nicht", sagt Abdul Hadi. Als er darauf beharrte, eine Begründung für den Angriff zu hören, sagten die Vertreter der Regierung folgendes: "Unseren Informationen zufolge befand sich im Auto deines Vaters ein Verdächtiger." Wer dieser "Verdächtige" gewesen sein soll, mit wem oder was er angeblich in Verbindung stand, wurde nicht genannt. Doch der vermeintliche Verdacht reichte allem Anschein nach aus, um ein Auto mitsamt fünf Personen per Knopfdruck in die Luft zu jagen.

"Die meisten Opfer sind Zivilisten"

Kein einziges Medium, weder ein lokal noch international, berichtete über den Drohnenmord an Hajji Delay und den vier anderen Afghanen, die mit ihm im Auto starben. Kein einziger Journalist oder Menschenrechtsaktivist hatte Abdul Hadi aufgesucht. Er ist der Ansicht, dass dies auch einer der Hauptgründe sei, warum sehr viele Drohnenopfer wie sein Vater kaum wahrgenommen werden und schnell in Vergessenheit geraten.
Der junge Afghane ist sich mittlerweile sicher, dass die meisten Opfer von Drohnen-angriffen in Khost Zivilisten sind. Allein in Khost hat er regelmäßig von solchen Angriffen gehört. Abdul Hadi geht davon aus, dass es im Durchschnitt mit einem jedem Talibankämpfer drei bis vier Zivilisten getötet werden – immer und immer wieder. Oder dass – wie im Fall seines Vaters – ganze Gruppen von Zivilisten aufgrund irgendwelcher Verdächtigungen in die Luft gejagt werden. Doch viele Menschen haben Angst, dagegen etwas zu unternehmen. Sie sind sich der Übermacht des US-Militärs in Afghanistan bewusst.
Hinzu kommt, dass das afghanische Militär sowie lokale Regierungsoffizielle dazu neigen, bei unliebsamen Fragen einfach ihre eigenen Fakten zu erfinden. Ähnlich wie ihre das Pentagon in den USA brandmarken sie oftmals sämtliche Opfer eines Angriffs bar jeglicher Beweise als "Terroristen", "Militante" oder "Talibankämpfer".
Währenddessen ist die KPF in Khost unter anderem auch dazu da, Kriegsverbrechen Washingtons zu decken. Die meisten Menschen in der Provinz wissen das – und haben Angst vor der Miliz.
"Diese Männer bekommen hohe Löhne. Doch einst waren die meisten von ihnen Diebe und Verbrechen. Sobald die Amerikaner sie fallen lassen, fallen sie über unsere Stadt her und plündern sie."
Sagt Sangar, ein Händler. Aussagen und Berichten zufolge liegt das Einstiegsgehalt der KPF-Kämpfer bei 400 bis 800 US-Dollar. Hochrangige Kämpfer erhalten angeblich 1000 bis 2000 US-Dollar. Für afghanische Verhältnisse sind diese Summen sagenhaft hoch. Auch Soldaten der afghanischen Armee können von derartigen Gehältern nur träumen.

Drohnenkrieg züchtet Feinde

Auch die zahlreichen Menschenrechtsverbrechen der KPF sind in der Region bekannt. Immer wieder töten die Milizen wahllos Zivilisten. Nachts stürmen sie gemeinsam mit US-Spezialeinheiten die Häuser unschuldiger Afghanen und richten Massaker an. Zu Rechenschaft ziehen kann die KPF niemand.
"Nicht einmal der afghanische Präsident kann diesen Männern etwas anhaben. Sie sind praktisch unantastbar, da sie im Dienst der CIA stehen."
So erzählt es ein Einwohner von Khost. Aus Angst vor den Milizen zieht er es vor, anonym zu bleiben.
Es ist diese Art des "War on Terror", der neue Feinde regelrecht züchtet. Im vergangenen Juni übten Taliban-Kämpfer ein Bombenattentat in Khost aus – mitten auf dem Basar der Stadt. Mindestens zwölf Menschen wurden bei dem Angriff getötet. Den Aufständischen zufolge waren die CIA-Milizen das Ziel des Angriffs. Es ist nicht verwunderlich, dass die brutale Vorgehensweise der Miliz Extremismus und Radikalisierung sät.
Auch Abdul Hadi kennt die KPF. Als er an jenem Tag zum Autowrack seines Vaters gelangte, sicherten die Milizen bereits den Tatort ab. Schaulustige wurden abgewimmelt, die Angehörigen der Opfer eingeschüchtert.

Unter Trump geht der Drohnenkrieg weiter

In Anbetracht der jüngsten Afghanistan-Pläne der Trump-Administration wird der Schattenkrieg der Amerikaner in Khost allerdings kein Ende finden. US-Präsident Donald Trump hat bereits angekündigt, das Truppenkontingent um mehrere Tausend Soldaten zu erhöhen, um "Terroristen zu töten".
Drohnenangriffe und geheime Missionen von Spezialeinheiten werden demnach weiterhin auf der Tagesordnung stehen. Seit Beginn der Präsidentschaft Trumps fanden bereits über 2.000 US-Luftangriffe in ganz Afghanistan statt. Laut der UN hat sich die Anzahl ziviler Opfer bereits drastisch erhöht.
Die absolute Mehrzahl der Opfer blieb wie gewohnt unbekannt. Genauso wie Hajji Delay wurden sie von ihren Verwandten allein und im Schatten jeglicher Öffentlichkeit geborgen und beerdigt. Für sie gab es keine Live-Ticker. Sie sind namenlos und haben kein Gesicht. Man könnte fast meinen, dass sie nie existiert haben.
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