Kennenlernprogramm Taglit

Wie Israel um neue Staatsbürger wirbt

Tourguide Shmul wartet auf seine Gruppe.
Tourguide Shmul wartet auf seine Gruppe. © Maximilian Klein
Von Maximilian Klein · 06.08.2017
Israel hat allein in diesem Jahr 30.000 junge Menschen mit jüdischen Wurzeln eingeladen, das Land kennenzulernen. Das Programm heißt Taglit, hebräisch für entdecken. Taglit soll die jungen Leute für Israel begeistern. Für viele ist es aber auch nur eine Chance auf einen kostenlosen Urlaub.
An der Decke des Flughafens Ben Ghurion sammeln sich dutzende bunte Luftballons. Viele tragen einen David Stern. Oder die Inschrift "Welcome Home". Heimat. Hier am Flughafen, keine 30 Minuten von Tel Aviv entfernt, beginnt sie. Für die, die ankommen oder zurückkehren. Nach Israel. So groß wie Hessen. Weltpolitische Supermacht. Land der Extreme.
Acht Millionen Einwohner hat Israel, zwölf Millionen Juden gibt es weltweit. Und jeder hat ein Anrecht auf einen israelischen Pass. Geburtsrecht nennen die Israelis das. Und die Regierung fördert den Zuzug mit einem Programm. Es heißt Taglit. Das ist hebräisch und heißt entdecken.

Israel lädt ein und zahlt

Das Taglit Programm gibt es seit 15 Jahren. Ariel Sharon, der damalige Ministerpräsident kritisierte, dass sich besonders die amerikanischen Juden kaum für Israel interessierten. Deshalb lud er sie ein. Heute wird das Programm von Spenden aus den USA und vom israelischen Staat finanziert. In den USA ist das Programm sehr bekannt.
Ich bin verabredet mit Shmuel. Er ist Tourguide und ist verantwortlich für die Taglit-Gruppe, die ich die nächsten Tage begleiten werde: "Früher hat ein Großteil der Juden unter sich heiratet. Nach dem Holocaust kann man sehen, dass die Religiösität überall, auch im Judentum, nachgelassen hat."
Und dass die nachfolgenden Generationen sich plötzlich fragten: Wann ist man überhaupt noch Jude und was bedeutet das eigentlich: jüdisch sein? Etwas, das heute sogar im Parlament und im Rabbinat von Israel diskutiert wird, erzählt Shmuel.

40 junge Leute zwischen 18 und 26

Die deutsche Gruppe könnte auch die 12b aus Stuttgart auf ihrer Abitur-Abschlussfahrt sein. Etwas abgekämpft von der Reise haben die meisten weiße Stöpsel im Ohr, Smartphones und Selfiesticks in der Hand. 40 Teilnehmer. Eine der größten Gruppen aus Deutschland dieses Jahr. Die jüngsten Teilnehmer sind 18, die Ältesten 26.

Sinnsuche auf dem Acker

Reisegruppe in einem Bus
Am Taglit teilnehmen bedeutet auch, viel Bus zu fahren.© Maximilian Klein
Wer an Taglit teilnimmt fährt Bus, viel Bus. Zehn Tage lang geht es alle paar Stunden zu einem anderen Ort. Nach einer Stunde Fahrt sind wir am ersten Ziel der "Israel Experience": Moshav Nahalal. Sinn und Daseinssuche im israelischen Norden auf einem Acker. Es ist heiß und staubig. Die meisten aus der Gruppe kommen aus größeren Städten, und wirken, als würden sie das erste Mal auf einem Acker stehen. Die Schminke der Mädchen verläuft, die Jungs haben sich ihre T-Shirts ausgezogen. Auberginen fliegen durch die Luft, landen in großen, roten Plastikwannen. Die Taglit-Teilnehmer pflücken sie für Bedürftige.
Teil der Taglit-Erfahrung: Auberginen pflücken für Bedürftige
Teil der Taglit-Erfahrung: Auberginen pflücken für Bedürftige© Maximilian Klein
Nach einer guten Stunde treiben die Tourguides die Teilnehmer wieder zusammen. Ab in den Bus. Durchzählen. Los. Ich setze mich neben Vadim, einen Deutsch-Letten. Vadim ist 26, sieht aber reifer aus. Ihm kaufe ich ab, dass er auf der Suche ist. Nach so etwas wie Heimat oder Identität. Und was es bedeutet, jüdisch zu sein. Deshalb bin ich hier, sagt Vadim, "auf Taglit".
Mit einigen Regeln, wie Kosher und Kashrut tut sich Vadim schwer.
"Ich hab's versucht. Aber ich hab's nicht so lange durchgezogen. Ein Jahr wenn es hochkommt. Mehr nicht. Und wie gesagt, ich kenne die jüdischen Feiertage, ich mache die Traditionen mit, aber religiös bin ich ja gar nicht. Und ich habe deswegen keinen Bezug zu Shabbat und Jerusalem."

Naturfilm fürs Image

Unsere nächste Station ist Rosh Hanikra, eine Grotte aus biblischer Zeit. Ein paar hundert Meter vor uns ein Militärcheckpoint. Hier endet Israel. Es fühlt sich an wie das Ende der Welt. Und am Ende der Welt wartet eine Gondel! Die Fahrt dauert genau zwei Minuten. Dann stehen wir vor dem Eingang der Grotte. Drinnen, in einem kleinen Saal, steht ein Beamer. Es gibt einen Lehrfilm. 20 Minuten Naturpathos untermalt mit großer Musik. Israel: meine unbekannte, wunderschöne Heimat - das soll wohl vermittelt werden. Die Gruppe soll Natur und Kultur mit Israel verbinden. Nicht immer nur Terrormeldungen und Krise.
Deshalb sitzen wir hier gemeinsam in der Grotte. Und schauen einen Film über Fische und Stalaktiten.
Zurück im Bus denkt Teilnehmerin Anna laut:
"Also ganz ehrlich, von Taglit habe ich mir erwartet, ein Bezug zu Israel zu finden. Weil, ich bin nach Deutschland gekommen, da war ich fünf. Und in Russland, ich bin nicht Russin, und in Deutschland bin ich eigentlich auch Ausländer. Und es war immer so ein 'ich bin nicht da zu Hause und ich bin nicht da zu Hause'. Und ich dachte mir, vielleicht bin ich in Israel zu Hause."
Irgendetwas, das spürt sie aber, macht dieser Besuch mit ihr: "Ich weiß nicht, ich hab hier schon, obwohl ich noch kein Hebräisch kann, aber ich hab hier schon so ein Jucken im Herz."

Singen für Israels Soldaten

Die Fahrt geht weiter. Nächster Programmpunkt. Misgave Am. Ein Kibbuz. Genau hier entzündet sich 1982 der Libanonkrieg. Eben noch ist die Gruppe mit ihren Selfiesticks herumgeturnt. Haben geknipst, Faxen gemacht. Jetzt hören sie wieder Shmuel zu. Er erzählt die Geschichte eines israelischen Soldaten, der sich während des Libanonkrieges auf eine Granate geworfen hat, um das Leben seiner Kameraden zu schützen. Shmuel teilt Blätter aus, will mit der Gruppe ein Lied singen. Zu Ehren der Soldaten. Aus einem kleinen Lautsprecher, den Shmuel am Gürtel trägt, kommt die Melodie dazu. Es ist ruhig. Fast schon gespenstisch. Nur der Gesang der Taglit-Gruppe ist zu hören. Alle singen. Sind irgendwie ergriffen. Oder tun jedenfalls so.
Selfies an der libanesischen Grenze
Selfies an der libanesischen Grenze© Maximilian Klein
Tag 3. Im Bus riecht es nach Rum-Cola. Alle hängen blass und schlapp in ihren Sitzen. Ich setze mich wieder neben Anna. Sie ist nach wie vor beeindruckt.
"Wenn man das so sieht, ist es viel schöner als Google Maps".
"Juckt dein Herz noch?"
"Ja, es juckt immer noch."
Wir sind auf dem Weg nach Jerusalem. Shabbat in der heiligen Stadt feiern. Ein von den Organisatoren konstruierter dramaturgischer Höhepunkt der Reise. Anna ist das egal. Natürlich würde sie nicht gleich nach Israel ziehen, dafür ist die Reise zu kurz, die Entscheidung zu groß. Ausschließen will sie es aber nicht.
Am Abend schlägt mir in Parfum-Mix entgegen. Die Mädchen haben ihre Haare geglättet, die Jungs frische Hemden angezogen. Nach dem Besuch auf dem Auberginen-Acker, im Kibbutz, an der bewachten Grenze ist die Stimmung gelöst.

Sinnsuche beim Anisschnaps

Wir erreichen den Shuk. Tagsüber wird hier gehandelt. Abends werden die Rollläden heruntergelassen und die Bars öffnen. Die Israelis sind bekannt für ihr Nachtleben.
Ich bin mit Vadim unterwegs, dem melancholischen Letten. Wir haben die Gruppe verloren, sitzen in einer kleinen Bar und trinken Arak. Ein israelischer Anisschnaps. Um uns tobt das Nachtleben. Vadim bezeichnet sich selbst als Zionisten und erzählt seine Geschichte. Dass er als Junge Unterricht bei einem jüdischen Privatlehrer hatte, dann aber die Schule verließ und ein "normales" Leben führte. Dann ging seine Familie nach Deutschland. Dort beendete er die Schule, begann ein Studium. Doch die Frage, wer er eigentlich ist und wo er hingehört - die ließ ihn nicht los.
Aber hilft Taglit wirklich dabei, diese Fragen zu klären? Oder ist es doch mehr ein bezahlter Urlaub, den man gerne mal mitnimmt? Für Vadim ist die Reise eine ernste Angelegenheit. Er denkt, dass er nach der Reise etwas besser verstehen wird, was sein Volk eint, nämlich der Glaube. Und, dass er sich zugehörig fühlt. Auch wenn er selbst nicht so gläubig ist.
Am nächsten Tag wird Jerusalem erkundet. Höhepunkt des Tages ist der Besuch an der Klagemauer. Die Stimmung ist angespannt. Muslime und Juden geraten in kleinen Wortgefechten und Rangeleien aneinander. Das Freitagsgebet der Muslime und der Shabbat der Juden. Es ist für beide Religionen ein heiliger Tag. Überall stehen Soldaten mit Maschinenpistolen. Mitten drin unsere Taglitgruppe.

Ekstase an der Klagemauer

Plötzlich stürmt eine französische Taglitgruppe auf den Vorplatz der Klagemauer und fängt frenetisch an zu singen. Wild tanzen sie im Kreis, reißen einige der deutschen Teilnehmer mit in ihre Runde. Einer nach dem anderen schließt sich an. Ekstatisch springen sie herum, wie auf einem Punkkonzert. Nur ohne Ellenbogen. Friedlich. Religiös. Beseelt vom Gedanken, etwas gefunden zu haben. Der eine sich selbst, der andere so etwas wie ein Stück Heimat. Oder einfach einen Ort, an den man gerne zurückkommt. Zum Feiern und Flirten.

"Was bedeutet es jüdisch zu sein und welche Rolle spielt Israel dabei? Große Fragen. Und ziemlich spannend dabei gewesen zu sein, wenn junge Menschen versuchen, Antworten darauf zu finden."

© privat
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