Keine romantische Liebe, sondern Liebesgewalt

19.09.2011
In ihrem Debütroman bricht Daniela Krien Tabus: Sie beschreibt die leidenschaftliche Liebesgeschichte eines Teenagers mit einem 40-jährigen Landwirt, die Lust, das Verlangen, die Liebe. Kraftvoll und unaufgeregt erzählt sie von erotischen und politischen Unruhen im Sommer 1990.
Sie ist 16 Jahre alt, schwänzt die Schule, verschlingt "Die Brüder Karamasov" von Dostojewski und lebt mit ihrem Freund Johannes bei seiner Familie auf deren Hof. Johannes hat gesagt: "Meine Familie möchte dich kennenlernen", da ist sie mitgegangen und dageblieben. Es wird kein Gewese gemacht um solche Entscheidungen. Sie werden nicht einmal Entscheidungen genannt. Es gibt halt Abzweigungen im Leben, die man nimmt. Soll man etwa jeden Weg befragen?

Daniela Krien lässt ihre Figuren nicht selbstbezogen grübeln, sondern dorthin gehen, wo das Leben gerade ist. Und wenn es sich in der Lust verbirgt, sucht man es halt dort auf.

Das Halbkind Maria schleicht sich alsbald immer wieder heimlich zum Nachbarhof, wo der wilde Henner lebt. Allein. Und der schon 40 ist. Er hat keinen guten Ruf im Dorf. Aber er will sie. Und sie ihn. Mit jeder Faser ihres Körpers und vielleicht ja auch ihrer Seele, wenn denn auch dort das Verlangen nistet. Liebe und Leidenschaft, Begierde und Zärtlichkeit sind ineinander verstrickt und Maria mittendrin.

Sie schämt sich, sie lügt und betrügt. Doch die Passion hat sie erfasst - in all ihrer Herrlichkeit und all ihrem Leiden. Mit archaischer Wucht.
Das ist keine romantische Liebe, sondern Liebesgewalt. Sanft, aber auch gewalttätig. Und bisweilen so grob, dass Maria wimmert und fiebert. Und es nicht abwarten kann, zurückzukehren zu dem Mann. Dann kocht sie ihm eine Suppe. Er deckt den Tisch. Und sie sind fast ein normales Paar.

Nein, politisch korrekt ist der Roman nicht. Da könnte man manches bemäkeln als präfeministische Entgleisung in der Beschreibung dieses ungleichen Paares. Doch man glaubt der Erzählung. Folgt der Autorin willig, die so ohne Furcht vor Leidenschaft oder landschaftlicher Idylle schreibt. Denn die erotische Verschlingung ist eingebettet in ein Leben auf dem Bauernhof, im Stall, auf den Feldern, in der großen Küche.

Und spielt im Sommer 1990. Ein heißer Sommer. Heuwendezeit. Die DDR gibt es nicht mehr. Die neue Bundesrepublik ist noch nicht entstanden . Es ist eine Zeit des Absturzes und des Aufbruchs. Wie muss man den Hof umstrukturieren, um überleben zu können. Wie dem verführerischen Westen und den eigenen Konsumgelüsten widerstehen. Natürlich kauft sich die Bäuerin ein neues Kleid, als der Westschwager mit seiner Westgattin den ersten Besuch ankündigt.

Der 1975 geborenen Daniela Krien, die in Leipzig lebt, aber nicht aus der Leipziger Schreibschmiede kommt, ist ein erstaunlicher Erstling gelungen. Weil sie mit wundersam altmodischer Ernsthaftigkeit die erotischen und politischen Unruhen so unaufgeregt wie kraftvoll erzählt.

In unseren Zeiten der Angst vor Gefühlen, der Angst vieler Autoren, sie könnten sprachlich entgleiten und in der Gefühligkeit landen, ist dieses Buch eine eigenwillige Ausnahme. Daniela Krien muss sich nicht ironisch distanzieren von ihrem Paar, von den Bauern, der Großmutter, sondern schreibt sich mitten hinein in Scham und Lust und Landleben, in Unsicherheit und Hoffnung. Auch mit (wohl dosiertem) Pathos. Und bannt uns Leser mit ihrer unbestechlichen Aufrichtigkeit.

Besprochen von Gabriele von Arnim

Daniela Krien: Irgend wann werden wir uns alles erzählen
Graf Verlag, München 2011
240 Seiten, 18 Euro

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