Keine Gewalt!

Vorgestellt von Andreas Malessa · 24.05.2005
"Auge um Auge, Zahn um Zahn" - diese aus der Bibel stammende Redewendung klingt für uns heute wie eine Aufforderung zur Rache. Dass sie aber zur Zeit ihrer Entstehung im 2. vorchristlichen Jahrtausend eine humanisierende juristische Neuerung war, erklärt die Theologin Susanne Krahe in ihrem Buch "Aug' um Auge, Zahn um Zahn: Beispiele biblischer Streitkultur".
"Ich bin ein Mensch mit mehreren Behinderungen und hab das Leiden zumindest von dieser Seite sehr persönlich kennen gelernt. Der biblische Mensch denkt meiner Meinung nach nicht so sehr von sich selbst und der einzelnen Person aus, sondern er denkt von sich selbst als Mitglied einer Gemeinschaft: Also andere können Ansprüche an jemanden stellen, Forderungen, die er nicht erfüllen kann und dann kommt es zum Leiden. Das kommt sehr häufig in der Bibel vor. Das Material, das solche Konflikte spiegelt, ist enorm reichhaltig."

Susanne Krahe, evangelische Theologin aus Unna in Westfalen, hat Erfahrung mit den Ansprüchen eines Menschen an sich und andere. Mit den Konflikten, die sich aus Überforderung und Verweigerung ergeben.

Mit 18 wurde sie zuckerkrank, als Dialyse-Patientin absolvierte sie ihr Studium, an ihrem 30. Geburtstag erblindete sie völlig, inzwischen lebt sie mit transplantierter Niere und fremder Bauchspeicheldrüse. Ihr umfangreiches schriftstellerisches Werk enthält Titel wie "Der defekte Messias", "Geschichten von Gottes Unmoral", "Rahels Rache" oder "Der Blinden-Blick". Ihr neuestes Buch nun, "Aug' um Auge, Zahn um Zahn", nacherzählt und kommentiert 50 "Beispiele biblischer Streitkultur", wie es im Untertitel heißt. Das tatsächlich reichhaltige Material aus dem heiligen Buch der Juden und Christen hat die Autorin in vier Kapitel sortiert: Emotionale Konflikte zwischen Ich und Du, Konflikte des Rechts, der Sitte und mit der Tradition, Konflikte um die rechte Religion und: Streit mit Gott.

"Ich glaube, das ist eine ganz spezifisch christliche Sichtweise Gottes, dass man sich mit Gott auseinandersetzen darf, kann und muss! Streit mit Gott - das sind die Psalmisten, die ihr Leiden vor Gott ausbreiten und dann fragen: Warum denn, Gott, warum geschieht das?! Ganz berühmt ist das bei Hiob, dessen Auseinandersetzung Seiten in der Bibel damit füllt, dass er Gott anklagt."

Auf dem Cover des 136-Seiten-Sachbuchs aus dem katholischen "echter"-Verlag sieht der Leser zwei Frauen, die einem liegenden Mann mit dem Schwert den Kopf vom Körper trennen. Die berühmte Szene der bildschönen Judith, die dem assyrischen Belagerer Jerusalems, König Holofernes, erst den Beischlaf versprach und dann die Kehle durchtrennte. Orazio Gentileschis Gemälde aus dem 16. Jahrhundert kann es an blutigem Realismus mit jedem Caravaggio aufnehmen. Streit-"Kultur" ist doch wohl was anderes, oder?

"Nein, das ist sicher keine "Kultur". Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass es einfach eine Tatsache ist, dass es auch grausige Geschichten in der Bibel gibt, dass nicht alle Konflikte, die dort aufbrechen und geschildert werden, Lösungen finden. Der Streit an sich bewirkt aber eine gewisse Festigung z.B. der eigenen Position."

Festigung der eigenen Position klingt nach Rechthaberei.

"Nein, das endet nicht in Rechthaberei. Es gibt nämlich auch Konfliktlösungen, es gibt Strategien, die z.B. darauf verzichten, dass jemand sein Recht durchsetzt oder, ein anderes Beispiel, dass jemand sich von einem anderen trennt. Statt sich durchzusetzen oder einen anderen zu vertreiben, sich zu behaupten. Es endet nicht alles in Rechthaberei."

Die mehrfach preisgekrönte Autorin Susanne Krahe serviert ihre geradezu Detail versessene Bibelkenntnis in plastischer, drastischer, bisweilen sogar satirischer Sprache und dürfte damit Pfarrern und Priester frische Predigtideen, Psychotherapeuten anschauliche Rollenmuster und Personalcoaches in der Industrie ungeahnte Fallbeispiele liefern. Auf theologisch wie erzählerisch hohem Niveau wird dem bibel-unkundige Leser z.B. die, Zitat, "deeskalierende Funktion des Talionsprinzips" erklärt, dass also "Auge um Auge, Zahn um Zahn" nicht Freibrief für Rache, sondern Maßstab für Wiedergutmachung bedeutete.

Schön und gut. Aber sind die radikalen Thesen des Jesus von Nazareth aus der Bergpredigt - Gewaltlosigkeit, Racheverzicht, Feindesliebe - im heutigen, modernen Alltag aus Mobbing und Rosenkrieg tatsächlich anwendbar?

"Also nehmen wir mal diesen Satz, diese Forderung: "Wenn Dir jemand auf die linke Wange schlägt, halte ihm auch die rechte hin". Ich stell mich vor jemanden und sage: Schlag doch ein zweites Mal zu, schlag doch einfach! - dann tritt ein gewisser Überraschungs- und Beschämungseffekt ein, den ich nicht für unrealistisch halte. Ich kann aber auch nicht sagen und ich muss noch Mal betonen: Ein Rezeptbuch ist mein Buch nicht und dass für jeden Konflikt die Bergpredigt das richtige Mitte ist, glaube ich nicht."

Susanne Krahe: "Aug' um Auge, Zahn um Zahn: Beispiele biblischer Streitkultur"
echter-Verlag Würzburg
136 Seiten