Keine Geschichte, die ein Ende nimmt

Rezensiert von Johannes Kaiser · 07.09.2006
Logik, Realität und klare Handlungslinien sind auch in Wintersons jüngstem Roman nicht zu finden. Die Preis gekrönte britische Schriftstellerin bleibt ihrem unkonventionellen Erzählstil treu. Sie erzählt die märchenhafte Geschichte eines blinden Leuchtturmwächters, der ein verwaistes Mädchen zu sich in die Lehre nimmt.
Wer schon einmal einen Roman von Jeanette Winterson gelesen hat, der weiß, dass ihn keine Geschichte im üblichen Sinne erwartet. Die 47-jährige englische Schriftstellerin hat ihre ganz eigene Auffassung vom Erzählen.

Ihre Geschichten verweigern klare Handlungslinien, springen abrupt durch die Zeiten, scheren sich nicht um Logik und Realität, mischen Phantastisches und Realistisches, fallen sich gegenseitig ins Wort, stoppen abrupt, beginnen wieder aufs Neue, ergehen sich in lyrischen Wortkaskaden, gefallen sich in sprachlichem Feuerwerk, lieben Assoziationen. Der Übersetzung gelingt es übrigens elegant, die Wortgewalt zu wahren.

Dass Jeanette Winterson das klassische chronologische Erzählen wenig bedeutet, macht sie auf Seite 27 als Kapitelüberschrift klar: ‚Eine anständige Geschichte hat Anfang, Mitte und Schluss. Mit diesem Modell habe ich jedoch meine Schwierigkeiten.’ Das hat der Leser bis dahin allerdings schon begriffen.

Der Roman beginnt wie ein Märchen, denn was auf den ersten Seiten geschieht, ist so komisch-traurig-absurd, dass niemand auf die Idee kommen kann, es wäre nichts als die Wahrheit.

Silver, ein zehnjähriges Mädchen lebt mit seiner Mutter in einem Haus, das so in einen Steilhang am Meer eingehauen ist, dass es keine einzige gerade Fläche aufweist. Die Möbel würden ins Meer rutschen, wären sie nicht festgenagelt. Der Hund hat vom schrägen Laufen kürzere Vorderbeine als Hinterbeine. Mutter und Tochter sichern sich gegenseitig mit Seilen vorm Abrutschen.

Doch eines Tages stürzt die Mutter auf dem Weg zum Haus ins Meer. Silver wird zum Waisenkind. Allein der blinde Leuchtturmwächter Pew erbarmt sich des Mädchens und nimmt es als Lehrling zu sich in seinen dunklen Turm, in dem die Dunkelheit so massiv ist, dass man sie erst vom Stuhl wischen muss, bevor man sich hinsitzen kann.

Der blinde Pew, dessen Vorfahren bereits die Leuchtfeuer bewachten, ist ein großer Geschichtenerzähler, denn das Leben besteht nun mal aus Geschichten, die allerdings je nachdem, wer sie erzählt, wann er sie erzählt, wie er sie erzählt, jeweils anders ausfallen, denn das Leben selbst ist der größte Geschichtenschreiber überhaupt und es schert sich um keine Konvention.

So springt denn auch Jeanette Winterson gerne hin und her, erinnert an Mythen und Legenden, philosophiert über Liebesnöte und Glaubenszweifel, Glück und Einsamkeit, so dass einem bisweilen der Kopf vor lauter gelehrten Einsichten und Metaphern zu platzen droht. Da geht ihre überbordende Phantasie mit ihr durch.

Bei allen Unterbrechungen, Einschüben, Nebengedanken, Ausflügen in Naturgeschichte und Literatur schälen sich zwei Hauptstränge der Erzählung heraus. Pew, alterslos, allwissend, erzählt Silver vom Pastor Babel Dark, der vor über 150 Jahren hier lebte, nachdem er jene Frau verlassen hatte, die er liebte und eine andere heiratete, die ihm völlig gleichgültig war. Jedes Jahr verschwand er zwei Monate, um mit seiner ersten Liebe zusammenzuleben und kehrte dann auf die Kanzel und zu seiner zweiten Frau zurück.

Sein Name entsprach seiner Situation: Pastor Darks Alltagsleben war finster und triste. Bei seiner Geliebten nannte er sich denn auch Mr. Lux, so licht und fröhlich wie seine Fluchten in ein Alternativleben. Allerdings traute er sich nie, die Lüge zu beenden, sich zu bekennen. So verlor er, was er am meisten liebte. Ihm blieb nur der Tod.

Seine zwei Leben, so behauptet Jeanette Winterson, dienten einem seiner Besucher, dem Schriftsteller Robert Louis Stevenson als Anregung für die Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Pews Geschichten enden mit der Automatisierung des Leuchtturmfeuers. Der Wächter wird entlassen, mit ihm muss natürlich auch Silver gehen.

Der zweite Erzählstrang führt uns in Etappen durch Silvers Leben, beginnt im Haus ihrer Mutter, verweilt lange im Leuchtturm und mündet in spätes Liebesglück in einer Waldhütte. In unzusammenhängenden Episoden erfahren wir, wie Silver ein Buch entwendet, auf Capri einen Vogel stiehlt – mysteriöse Sinnsuche, die zu begreifen schwer fällt.

Dass die junge Frau schließlich ihre große Liebe findet, ihr Glück, da kehrt der Roman wieder zum Märchen zurück. Gibt es Geschichten, die ein gutes Ende nehmen?

Der Leuchtturmwärter Pew antwortet dem Kind auf diese Frage. ‚Es gibt keine Geschichte, die ein Ende nimmt.’ Eine gute Beschreibung für Jeanette Wintersons Erzählweise. Ihre Geschichten enden nicht wirklich. Dazu bleiben viel zu viele Fragen offen. Dass es ihr dennoch gelingt, gleich mehrere Spannungsbögen auszubauen und bis zum Ende zu halten, das ist ein wahrlich ein bewundernswertes Kunststück.

Jeanette Winterson: Der Leuchtturmwärter
Aus dem Englischen von Monika Schmalz
Berlin Verlag, München2006,
207 Seiten, 19,90 Euro