Keine Basis für Militäreinsatz

Heiko Wimmen im Gespräch mit Gabi Wuttke · 26.06.2012
Vor der NATO-Krisensitzung in Brüssel sagte Heiko Wimmen, Nahostexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), er sehe niemanden, der bereit wäre, eine "Koalition der Willigen" zu bilden. Die Situation in Syrien lasse sich nicht mit der in Libyen vergleichen.
Gabi Wuttke: Als am Freitag das türkische Aufklärungsflugzeug von der syrischen Luftwaffe abgeschossen wurde, da schienen beide Seiten um Ruhe bemüht. Doch vorgestern rief Ankara den NATO-Rat an mit der Begründung, sich von Syrien bedroht zu fühlen. Heute kommen die Botschafter der NATO dem Antrag der Türkei nach.

Fest steht, der syrische Flugraum wurde verletzt, ob der Abschuss aber eine strategische Entscheidung des Regimes war oder die eines Militärs in Panik, das ist nach wie vor eigentlich ungewiss.

Am Telefon begrüße ich Heiko Wimmen von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Einen schönen guten Morgen!

Heiko Wimmen: Guten Morgen!

Wuttke: Welche Hypothese haben Sie denn?

Wimmen: Also ich habe erst mal keine Hypothese, weil ich keine oder nur sehr widersprüchliche Informationen habe, wie Sie auch, und man kann natürlich sagen, musste dieses Flugzeug nun wirklich in der gespannten Situation so nahe an der Grenze vorbeifliegen am syrischen Luftraum - ob es nun auf der einen oder anderen Seite war, das ist ja letztendlich dann unerheblich.

Wenn man sich wirklich überlegt, wie die Situation ist, kann man sich natürlich auf türkischer Seite vorstellen, dass da in Syrien die Leute recht nervös sind und auf solche Sachen auch reagieren könnten.

Wuttke: Die Leute, die nervös sind, auf welcher Ebene meinen Sie das? Also tatsächlich auf der eines Menschen in Panik, oder - man kann sich ja auch vorstellen, dass in Damaskus an oberster Stelle man durchaus sehr nervös sein kann.

Wimmen: Man kann sich das vorstellen, man kann sich auch vorstellen, dass man in Damaskus solche Vorfälle mit - sagen wir mal - einer gewissen Genugtuung oder auch mit einer gewissen Freude sieht, weil natürlich auf diesem Wege jedem, der auf eine internationale Intervention spekuliert, gerade auch in Syrien, also auch innerhalb der syrischen Opposition, noch einmal deutlich wird, dass die Kosten einer solchen Intervention voraussichtlich sehr hohe sein würden, und dass entsprechend die Hemmschwelle auch sehr hoch sein wird.

Das heißt, wer darauf spekuliert hat, dass das kommt, und auf jeden Fall kommt, der hat jetzt wahrscheinlich Grund, noch mal drüber nachzudenken. Ich denke, das erfüllt die Leute innerhalb des Regimes durchaus mit Beruhigung, und man könnte dann natürlich zu dem Schluss kommen, dass man nur darauf gewartet hat auf eine solche Gelegenheit.

Aber es ist eine Black Box, wir stecken nicht drin, die Theorie, dass da irgendjemand in Aleppo oder wo immer die Feuerleitzentrale sein mag, schlicht und ergreifend seinen Job gemacht hat und vielleicht nicht das Protokoll genau eingehalten hat, vielleicht nicht die Warnung abgeschickt hat, die er eigentlich schicken müsste, sondern so das Gefühl hatte, okay, jetzt passiert es, wir hören die ganze Zeit, es soll eine Intervention geben, auch das ist möglich.

Wuttke: Hatten Sie denn damit gerechnet, dass die syrische Luftwaffe sich als noch so intakt erweist?

Wimmen: Das ist in der Tat - ich will jetzt nicht sagen, eine Überraschung, aber das war nicht unbedingt so klar. Man hat das immer wieder gelesen, die Russen haben als - natürlich vor allem geht es um Russland als Verkäufer solchen Gerätes. Es gab immer wieder diese Berichte, die Russen haben den Syrern oder hätten den Syrern sehr weitentwickeltes Gerät geliefert, zur Verfügung gestellt, dann ist immer die Frage, funktioniert das, können die das bedienen, die Frage, trauen die sich das, das auch wirklich zu tun - all diese Fragen muss man jetzt eindeutig mit ja beantworten.

Und wir haben vielleicht nicht damit gerechnet, aber wir hatten vielleicht Zweifel, ob das denn so weit kommen würde, ob es im Zweifelsfall auch tatsächlich zum Einsatz kommt. Wir wissen jetzt, die Antwort lautet: ja.

Wuttke: Nicht sehr laut wird ja derzeit die Frage gestellt, was die Türkei im Luftraum Syriens eigentlich aufklären wollte.

Wimmen: Nun, man hört aus der Türkei einiges Verschiedenes. Ich denke, es verdichtet sich, oder es läuft darauf hinaus, das ist die offizielle Version zumindest: Es war ein Versehen. Ich habe heute in einer syrischen Zeitung gelesen eine Meinung, da wurde eine Meinung wiedergegeben von russischen Experten, die da sagen, das war ein ganz bewusster Versuch, mal die Tauglichkeit dieser Luftabwehrsysteme zu testen, vielleicht, oder unter Realbedingungen sozusagen, vielleicht auch sogar im Auftrage der NATO, weil es sind ja russische Systeme, und da möchte die NATO vielleicht ganz gerne mal wissen, was die so drauf haben.

Also all diese Thesen gibt es, ich gehe mal davon aus, dass die Türken routinemäßig da Aufklärungsflüge, vielleicht auch nur auf ihrer Seite der Grenze, durchführen, und das so was tatsächlich auch unabsichtlich und versehentlich passiert sein könnte. Das ist ...

Wuttke: Kann man denn in dieser Situation von Routine reden, was Syrien angeht?

Wimmen: Das ist die Frage. Ja, das ist - deshalb hatten wir schon gesagt, es ist natürlich in dieser Situation klar, dass auf der anderen Seite Leute sitzen, die vielleicht nicht so gelassen reagieren, wie sie das zu anderen Zeiten getan hätten. Und ob das wirklich sein muss, kann man sich in der Tat fragen.

Wuttke: Wenn Sie jetzt sagen, es könnte tatsächlich sein, dass man sich in Damaskus auf die Schenkel schlägt und sagt, wir haben jetzt Gelegenheit gehabt, zu demonstrieren, wie viel militärische Stärke wir noch haben, das ist ja dann auch sicherlich eine Botschaft, die an die internationale Gemeinschaft so weitergegeben wird, beziehungsweise auch als solche anerkannt werden muss. Wird die Gemeinschaft noch lange Argumente haben, sich basteln können, nach Libyen einen Einsatz gegen Assad nicht zu starten?

Wimmen: Also erst mal, die erste Schwelle, die man da hat, ist ja erst mal die der Legitimation, nicht? Also wir hatten im Falle von Libyen eine Resolution, die da sagte, man habe die Zivilbevölkerung zu schützen, oder man könne das tun, man solle das tun.

Man hatte natürlich auch auf libyscher Seite ganz hochrangige Diplomaten, die von der Fahne gegangen sind und gesagt haben, das muss passieren, insofern also hatte man einen ganz anderen Legitimationslevel erreicht. Hier - also ich sehe niemanden - und ich denke, das wäre auch sehr bedenklich oder andersrum, es ist gut, dass man niemanden sieht -, der wiederum bereit wäre, sich über internationale Prozesse hinwegzusetzen und wiederum eine Koalition der Willigen zu bilden.

Da hat man im Irak sicherlich keine gute Erfahrung mit gemacht, und ich glaube nicht, dass Herr Obama das wiederholen möchte, was sein Vorgänger da betrieben hat - ganz sicherlich nicht in einem Wahljahr. Und das, was das Schenkelklopfen in Damaskus angeht, ich weiß natürlich nicht, was Herr Assad tut und denkt, aber wenn man prosyrische Kommentatoren liest in der Presse, in der Tat, also das ist genau das, was man da liest: Wir haben klargemacht, uns kann man nicht herum schubsen, und wir haben klargemacht, wir haben die Mittel, und jeder, der da kommt, der soll drüber nachdenken.

So sehen die das, und so stellen die das dar, so stellen die das eben vor allen Dingen auch nach innen dar gegenüber Leuten, die potentiell vielleicht nachdenken und sich immer wieder fragen, ist vielleicht der Punkt nahe, wo man die Seiten wechseln sollte. Solche Ereignisse deuten natürlich eher darauf hin, dass der Punkt wahrscheinlich noch ein Stück entfernt ist.

Wuttke: Sagt Heiko Wimmen von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur. Vielen Dank für diese Erläuterung und schönen Tag!

Wimmen: Ja, einen schönen Tag auch Ihnen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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