Keine Anzeichen für neue Suez-Krise

Rainer Herret im Gespräch mit Ulrike Timm · 07.02.2011
Die Ägypter würden unter einer Blockade des Suezkanals selbst am meisten leiden, schätzt Rainer Herret, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Arabischen Industrie- und Handelskammer, ein. Für die Zukunft mahnt er soziale Komponenten der Marktwirtschaft an.
Ulrike Timm: Am Wochenende konnten die Ägypter wieder Geld abheben, einkaufen gehen, und parallel wurde im Zentrum von Kairo weiterhin demonstriert. Trotzdem, im Ganzen hat sich die Lage wohl ein wenig beruhigt, erstmals sprachen Regierungsvertreter und Oppositionelle miteinander. Zugleich stieg der Ölpreis auf den höchsten Stand seit zwei Jahren. Ob sich so Befürchtungen ausdrücken, der Suezkanal könne infolge der Unruhen in Ägypten blockiert werden? Der Suezkanal ist nämlich ein wichtiges Nadelöhr im Welthandel, und unsere Heizung im Wohnzimmer ist an die Öllieferungen der Tanker gekoppelt, die durch den Suezkanal fahren. Ich möchte sprechen mit Dr. Rainer Herret, er ist Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Arabischen Industrie- und Handelskammer in Kairo. Herr Herret, schönen guten Morgen!

Rainer Herret: Schönen guten Morgen!

Timm: Herr Herret, gesetzt den Fall, der Suezkanal würde blockiert oder der Verkehr sehr behindert – 1956 ist das ja schon mal wochenlang passiert –, was würde das für den Welthandel bedeuten?

Herret: Also etwa acht Prozent des Schifffahrtwelthandels werden durch den Suezkanal abgewickelt. Und das bedeutet zum Beispiel, dass sich die Transportzeit von der größten Raffinerie der Welt in Saudi-Arabien, Ras Tanura, nach Rotterdam um 41 Prozent verkürzt, oder von Singapur nach Rotterdam um 31 Prozent. Das wären natürlich erhebliche Einbußen, die durch eine Blockade entstehen würden. Aber die am meisten darunter leiden, wären die Ägypter selber, denn die verdienen zwischen viereinhalb und fünf Milliarden Dollar im Jahr aus den Einnahmen der Schifffahrtsgebühren, und das macht etwa ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.

Timm: Heißt das, das wäre so eine Art Götterdämmerungsszenario für das Land selber, wenn sie ausgerechnet die größte Handelsader dichtmachen würden oder dichtmachen müssten?

Herret: Also Götterdämmerung, so drastisch würde ich das auch nicht ausdrücken. Aber es stand überhaupt nie zur Debatte, dass irgendetwas beim Suezkanal passieren könnte, das war weder das Ziel der Demonstranten, noch hat die Regierung gesagt, sie müsste das tun. Und Sie müssen ja auch eines sehen, das ist ja eine Frage der nationalen Sicherheit und die Armee ist ja völlig intakt und würde da auch einschreiten und eingreifen.

Timm: Das heißt, völlig egal, wie viele Demonstranten in Kairo auf dem zentralen Platz stehen, ob Mubarak zurücktritt oder nicht, ob man verhandelt oder nicht: Die Mautgebühren am Suezkanal werden kassiert und die Durchfahrt ist frei?

Herret: So sehe ich das.

Timm: Wie ist denn eigentlich der große Unterschied zur wochenlangen Blockade 1956, als gleich vier Länder um die Kontrolle um diesen Kanal kämpften? Da war ja der Suezkanal gesperrt, da passierte so ein Szenario. Was ist denn heute so entscheidend anders, dass Sie sich sicher sind, das kann nicht sein?

Herret: Ja damals war es natürlich ein internationaler Konflikt. Hier haben wir einen internen Konflikt und die Demonstranten sind ja stets friedlich gewesen, es sei denn, man hat sie angegriffen, dann haben sie sich gewehrt. Und die Auseinandersetzungen, die finden im Wesentlichen in den urbanen Zentren statt. Dazu gehört sicherlich auch die Stadt Suez selber, aber mittlerweile ist da auch Ruhe eingekehrt und die Gewalttätigkeiten haben sich in keiner Weise auf die Hafenanlagen und auf die Kanalanlagen ausgestreckt.

Timm: Nun hat Ägypten ja wirklich große Einnahmen, ganz zentrale Einnahmen durch die Mautgebühr, durch die Durchfahrtsgebühr durch diesen Kanal. Warum hat Ägypten daraus so wenig machen können? Sie haben den Schalter an einem Nadelöhr der Welt, ohne diese Verbindung müsste man ganz Afrika umfahren. Ist das nur das Regime Mubarak, dass von diesem Geld bei der Bevölkerung so wenig ankam, oder hat das noch andere Gründe?

Herret: Also der Suezkanal ist natürlich nicht der Haupteinnahmebringer für das Land, wesentlich ...

Timm: ... aber einer der ...

Herret: ... einer der, aber wenn Sie sehen, das macht eben einen Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Tourismus sind schon sechs Prozent, dann haben wir die Gastarbeiterüberweisungen. Also unter den Devisenbringern ist der Suezkanal noch der geringste. Und das Projekt Suezkanal ist durchaus erfolgreich, um den Kanal herum werden neue Industriezentren gebaut, der Hafen Port Said wird im Augenblick ausgebaut, Gesamtvolumen von vier Milliarden US-Dollar dort, das schafft Arbeitsplätze, das schafft Wohlstand. Der Suezkanal, das ist eines der erfolgreichen Wirtschaftsunternehmen im Land.

Timm: Herr Herret, Sie sind Präsident der Deutsch-Arabischen Handelskammer. War der Autokrat Mubarak für die Wirtschaft des Westens ein klarer Vorteil?

Herret: Er war sicherlich eine berechenbare Größe. Er war verlässlich in seiner Strategie und in seiner Politik, da hat man keine sprunghaften Entscheidungen und Politikänderungen zu erwarten gehabt.

Timm: War er, wenn Sie aus dem Fenster in Kairo gucken, in gewisser Weise auch ein zynischer Vorteil für den Westen?

Herret: Das ist jetzt sicherlich die Frage der Betrachtung. Ich glaube, das ist einfach der Unterschied zwischen ethischen Prinzipien und Realpolitik, wie ich den Medien entnommen habe.

Timm: Auch wenn man in der Politik immer zwischen Machbarem und Möglichem unterscheiden muss, so ist es doch sehr deutlich, dass der Westen von Mubarak so scheibchenweise abrückt. Dahinter steht doch auch der Gedanke, mit dem konnten wir rechnen – wirtschaftlich, politisch, in jeder Hinsicht?

Herret: Einmal dieses, und das andere ist, dass man von außerhalb eigentlich nicht die Transparenz hat, wie die Situation hier in Ägypten im Augenblick ist. Ich darf Ihnen ein Beispiel geben: Man fordert, dass der Präsident sofort zurücktritt und dass das Parlament aufgelöst wird und dass man Neuwahlen hat und dann natürlich demokratische Wahlen. Das Wahlrecht ist aber in der Verfassung verankert. Wenn Sie jetzt den Präsidenten feuern und das Parlament auflösen, dann haben Sie keine Gremien mehr, die die Verfassung ändern könnten. Insoweit verficht auch die hiesige Wirtschaft ganz klar die Auffassung, wir warten auf jeden Fall bis zum Ablauf der normalen Wahlperiode, bis September, und machen in dieser Zeit die Änderung der Verfassung, dann können wir auflösen, dann können wir neu wählen, und dann haben wir eine Basis. Denn die Alternative wäre ja, dass man sozusagen jetzt alles aufgibt, vielleicht einen Militärputsch hat, wirft die gesamte Verfassung zum Fenster heraus und hat dann eine Verfassung, die überhaupt nicht vom Volk bestimmt ist, sondern wieder aufoktroyiert ist.

Timm: Was würde es denn bedeuten – so unwahrscheinlich ist es ja nicht –, wenn die Unruhen auf den gesamten arabischen Raum übergreifen, also zum Beispiel auch nach Saudi-Arabien, wo ja die Ölquellen sind vor allem?

Herret: Also wenn in Saudi-Arabien Unruhen wären, das wäre natürlich eine echte Katastrophe für uns im wirtschaftlichen Sinne, weil da eben die meisten Ölvorräte liegen im Augenblick noch, und dann hätten wir weltwirtschaftlich ein ganz massives Problem. Insoweit ist also der Westen schon beraten, diesen Prozess zu begleiten.

Timm: Wir sprechen mit Dr. Rainer Herret, er ist Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Arabischen Industrie- und Handelskammer in Kairo. Herr Herret, am Wochenende lief es in Kairo, nach allem, was wir hier wissen, ein wenig ruhiger. Banken und Geschäfte wurden wieder geöffnet, trotzdem wurde parallel weiter demonstriert. Was machen die Ägypter heute: Einkaufen, Geld abheben, vielleicht sogar wieder arbeiten gehen - oder einfach abwarten?

Herret: Nein, es ist das Erstere, da sind Ihre Informationen vollkommen korrekt. Seit Sonntag hat die Arbeit wieder begonnen, man hat in den Straßen gesehen, dass die Müllabfuhr wieder funktionierte, dass die Verkehrsmittel laufen, die Leute kommen wieder zu ihren Arbeitsplätzen zurück und die Produktion läuft an. Gleichzeitig etabliert sich aber am Tahrir so etwas wie ein eigenes Dorf, ein Kleinbonum, könnte man fast sagen. Die Demonstranten richten sich dort ein, dort hat es zwei Hochzeiten gegeben, sie geben mittlerweile ihre eigene kleine Zeitung heraus, sie sitzen in Diskussionsrunden herum, es gibt auch Mini-Lazarette, wo immer noch die Verletzten von den Ausschreitungen des letzten Mittwoch behandelt werden, und da haben wir jetzt wohl eine Auseinandersetzung der Willensstärke: Wer ist hartnäckiger jetzt, die Regierung oder die Demonstranten?

Timm: Das klingt für mich fast ein wenig, als würden Sie die Demonstranten auch bewundern, diese junge Generation, die da zum ersten Mal Rechte und ein besseres Leben für sich einfordert. Müsste mit dieser jungen Generation in Ägypten nicht auch wirtschaftlich in einem freieren Staat ein Aufstieg, ein Aufschwung machbar sein?

Herret: Ja also ich bewundere die Leute auf jeden Fall. Ich habe das ja am ersten Tag der Demonstrationen selber miterlebt vor Ort, wie die Leute sich mit bloßen Händen gegen Polizisten mit Schlagstöcken gestellt haben, da gehört schon unheimlich viel Mut dazu. Und Sie haben auch vollkommen recht, wir brauchen wirtschaftliche Reformen, ich glaube, da haben wir alle eine etwas unvollständige Einschätzung des Reformprozesses hier in Ägypten gehabt. Ägypten ist ja eines der Länder, die weltweit von der Weltbank gelobt worden sind, weil man die Wirtschaft liberalisiert hat. Aber was man total übersehen hat, das ist das, was in Deutschland die Stabilität garantiert, nämlich die soziale Komponente der Marktwirtschaft. Es gab hier keinen Ludwig Erhard. Und so hat man den Preisen freien Lauf gelassen, die Inflation galoppierte, aber der Mindestlohn lag nach wie vor bei 45 Pfund, das sind so 8 Euro im Monat. Und bei so einem Ungleichgewicht kann das System natürlich nicht halten und irgendwann ist die Schere zwischen Arm und Reich so groß geworden, dass die breite Masse einfach keine Existenzgrundlage mehr hatte. Und das hat den gesellschaftlichen Konsens verletzt. Insoweit muss die Privatwirtschaft auch soziale Verantwortung hier übernehmen.

Timm: Dr. Rainer Herret, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Arabischen Industrie- und Handelskammer, sprach mit uns über die wirtschaftlichen Aspekte der Unruhen in Ägypten. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!

Herret: Ja, gern geschehen!


Linktipp:
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Deutschlandradio · Der arabische Aufstand
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