Kein Tag wie jeder andere

Von Wilhelm von Sternburg · 08.05.2007
Für die Konservativen und die deutsche Rechte war es ein patriotischer Tabubruch. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker deutete 1985 in seiner berühmt gewordenen Gedenkrede die Kapitulation der Hitler-Armee auch für uns, die Deutschen, als einen Akt der Befreiung.
Die Wellen schlugen hoch. Eine Niederlage auf dem Schlachtfeld als Befeiung auch für die Besiegten? Weizsäcker sprach damals das so lang verleugnete und doch eigentlich Selbstverständliche aus. Unter ungeheuren Opfern hatte die Anti-Hitler-Allianz ein mörderisches Regime und die skrupellos einen Vernichtungskrieg praktizierende deutsche Wehrmacht besiegt. Nicht nur Berlin, Hamburg, Frankfurt oder Köln, sondern praktisch ganz Europa lag am 8. Mai 1945 in Trümmern, Millionen Menschen waren auf der Flucht, waren heimatlos geworden.

Deutschland aber hatte in den Jahren des Dritten Reiches den Tiefpunkt seiner Geschichte erreicht. Die Ermordung des europäischen Judentums und der Rassenkrieg in Polen und in der Sowjetunion kostete über 40 Millionen Menschen das Leben. Die Deutschen, sich stets als Kulturnation preisend, waren die Parias unter den Völkern der Welt geworden. Unvorstellbar, was noch gekommen wäre, wenn die Wehrmacht und ihr Oberbefehlshaber gesiegt hätten. Die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg hat auch uns, die Überlebenden, gerettet.

Muss darüber heute, 62 Jahre danach, immer noch gesprochen werden? Natürlich, denn es sind nicht nur die unbelehrbaren Neo-Nazis und ihre politischen Parteien, die sich in diesem Land als Geschichtsvergessen erweisen. Die peinvolle, in ihrer Schlussfolgerung schreckliche Rede des Stuttgarter Ministerpräsidenten Oettinger ist nur das jüngste Beispiel für einen Umgang mit der Geschichte, der in konservativen Kreisen immer noch hoffähig ist. Die Wirklichkeit des Dritten Reiches – das übersehen die Oettingers in der Regel nur allzu gerne – war in seinen menschenverachtenden und massenmörderischen Konsequenzen nur möglich, weil die Mehrheit der Deutschen mitgemacht hat.

Aber auch die deutsche Linke hat seit den sechziger Jahren mit ihrer antifaschistischen Selbststilisierung offensichtlich den 8. Mai 1945 nur halb verstanden. Der latente Anti-Amerikanismus, der seit dem Vietnamkrieg in den Reihen der Linken grassiert, vergisst, dass Hitler und die Weltanschauung, für die er und eine Mehrheit der Deutschen standen, nicht nur von den Armeen ihrer Gegner, sondern auch von den Ideen der Aufklärung besiegt wurden. In Nordamerika stand die Wiege der politischen Revolution, die dann mit dem Sturm auf die Bastille auch das alte Europa erreichte. Demokratie und Menschenrechte, Herrschaft des Volkes und Gewaltenteilung, das haben die Aufklärer im 17. und 18. Jahrhundert auf sensationelle Weise theoretisch gedeutet. Die amerikanischen Kolonisten haben diese Ideen erstmals praktisch umgesetzt.

Es mag angesichts des Irak-Desasters und der Präsidentschaft von George W. Bush verständlich erscheinen, in der aktuellen weltpolitischen Situation mit dem Finger auf die Amerikaner zu zeigen. Kritik ist da seitens der Europäer in der Tat dringend notwendig. Darüber aber zu vergessen oder ideologisch zu verdrängen, für was dieses Amerika in seiner Geschichte auch gestanden hat und große Teile der Amerikaner heute noch stehen, ist fahrlässig. Die Welt wäre ohne Amerika und die Ideen, die es vertrat, nicht vom Alptraum Hitler befreit worden. Dies soll den Anteil der Sowjetunion im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland nicht schmälern.

Wer die Erinnerung an den 8. Mai 1945 vernachlässigt oder das, was damals endete, im Sinne nationalistischer oder parteipolitischer Ideologie deutet, verrät das Beste, was die europäisch-amerikanische Geschichte hervorgebracht hat, Demokratie und Aufklärung. Im neuerlich anbrechenden Zeitalter der Glaubenskriege, des Missbrauchs der christlichen und islamischen Weltreligionen zum Zwecke ökonomischer und politischer Machteroberungen, ist die Besinnung auf Wirken und Ende des Nationalsozialismus von besonderer Bedeutung. Aber auch daran, welche Kräfte und welche Ideen es waren, die uns in einem langen, blutigen Kampf schließlich von ihm befreiten.

Wilhelm von Sternburg, geboren 1939 in Stolp (Pommern), war Fernseh-Chefredakteur des Hessischen Rundfunks in Frankfurt/Main. Er lebt jetzt überwiegend in Irland. Sternburg schrieb u.a. Biographien über Konrad Adenauer, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger und Erich Maria Remarque. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher "Deutsche Republiken. Scheitern und Triumph der Demokratie" und "Als Metternich die Zeit anhalten wollte. Unser langer Weg in die Moderne".
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