Kein schöner Land?

Von Günter Franzen |
"Ich habe zu analysieren versucht", notiert der im 20. Jahrhundert meistgelesene britische Schriftsteller Somerset Maugham 1917 in seinem Tagebuch, "worin das patriotische Gefühl in mir selbst besteht.
Für mich hat schon die Form Englands auf einer Landkarte Bedeutung und erweckt wild durcheinander die verschiedensten Vorstellungen: die weißen Felsen von Dover und das lohfarbene Meer, die schön gewundenen Straßen in Kent und die Hügelketten in Sussex, die St.-Pauls-Kathedrale und die Themse in London; dann Bruchstücke von Gedichten, Keats edle Ode an eine Nachtigall und einzelne Zeilen Shakespearescher Dramen…..ein vages Gefühl von Würde, Macht und Beständigkeit..."

Wenn man als Deutscher den Zauber dieser Zeilen - ein fragiles Gebilde aus dezentem Stolz, Wehmut und Snobismus - auf sich wirken lässt, kommt man in dem gegenwärtigen, sich an dem lächerlichen Karikaturenstreit entzündenden, keinesfalls lächerlichen Kampf der Kulturen, nicht um das bittere Eingeständnis herum, wie sehr es uns an einer solchen Stimme, wie sehr es uns an einer solch ruhig und entschlossen vorgetragenen Auflistung der verteidigungswürdigen Kulturgüter unserer Nation mangelt. Nein, uns wird seit 1945 in alten Mären kein Wunder mehr erzählt, und wenn der Mond und die gülden prangenden Sternlein endlich aufgegangen sind am trüben Himmel über dem deutschen Jammertal, dann beleuchten sie am Brunnen vor dem Tore keinen Lindenbaum, sondern die dumpfe Graffitibotschaft der lokalen Antifa-Gruppe: Deutschland verrecke!

Während der aus dem Herzen Europas gesteuerte, auf der frühen kulturellen Reifungsstufe des 11. Jahrhunderts hängen gebliebene islamische Mob rund um den Globus zur Hatz auf die "Christenhunde" bläst und der iranische Ministerpräsident ein Remake des totalen Krieges gegen das Weltjudentum in Szene setzt, wässern hierzulande die Hüter des frommen Denkens unter der Führung der altgrünen Ehrensynodalen Claudia Roth unverdrossen das multikulturelle Kräutergärtlein: Verbirgt sich, so ihre bange Frage, unter dem pädagogischen Ansinnen einiger Schulpolitiker, die babylonisch radebrechenden Jugendlichen in den Unterrichtspausen zum gemeinsamen Gebrauch der Landessprache zu überreden, nicht am Ende doch wieder die altbekannte rechtsradikale Germanisierungswut?

Wer so fragt - und so fragen viele meiner seit 1968 im Mahn- und Gedenksektor des Politikbetriebes tätigen Altersgenossen -, läuft bei aller Anerkennung der ursprünglichen Motive nicht nur Gefahr, dass dem Verweilen im Schatten von Auschwitz mittlerweile ein gewisses intellektuelles Behagen anhaftet, sondern dass dem starren, auf den Schrecken eines zwölfjährigen Abschnitts der deutschen Geschichte fixierten Blick beides entgeht: der beschädigte, aber überdauernde kulturelle Reichtum unseres Landes und das Ungeheuer des islamischen Fanatismus, dass seine Wirkmacht weniger aus der Vergangenheit als aus der gegenwärtigen Dynamik der weltweiten Deregulierung bezieht.

Die literarische Welt meiner Kindheit war bevölkert von Zigeunern, Negern, Eskimos, Rothäuten und Muselmanen und an guten Tagen wurde die Lektüre durch die Begegnung mit dem Sarotti-Mohren gekrönt. Natürlich steht es dem erwachsenen Leser gut zu Gesicht, die Verbannung dieser zutiefst rassistischen Stereotypen aus dem deutschen Wortschatz als Sieg der kollektiven Vorurteilsfreiheit zu feiern und Genugtuung darüber zu empfinden, sie fortan im wirklichen Leben als Mitbürger in der Einwanderungsgesellschaft begrüßen zu dürfen. Dass die einwandfreie Etablierung dieses Sammelbegriffs von einem Verlust der Unterscheidungsfähigkeit begleitet sein könnte, wird dem Menschenfreund möglicherweise erst dämmern, wenn er im Kino sitzt.

In Romuald Karmarkers Film "Hamburger Lektionen" endet die Nacht jäh, in der alle Katzen grau und alle Mitbürger guten Willens sind. Verlesen wird in diesem Film mit der tonlosen Stimme Manfred Zapatkas die im Januar des Jahres 2000 im Stadtteil Sankt Georg gehaltene Predigt des Mohammed Ben Mohammed; ein Streifen, der in quälend langen 180 Minuten nur ein Satz variiert: Es gibt keinen Gott außer Allah und für die Ungläubigen kein Entkommen.

Wir verlassen das Lichtspielhaus mit schlotternden Knien und finden Trost in der deutschen Klassik. "Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch." Dass wir uns entschlossen zeigen, weiterhin zu schweigen wie Goethes Vögelein im Walde, wird den angekündigten Sturm nicht aufhalten. Der Krieg ist erklärt.


Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u. a.: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. "Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main 2000.