Kein Geld für Lehrer

Von Bettina Kaps · 16.06.2011
Bei der Ausbildung der Lehrer in Frankreich wird gespart. Frei werdende Beamtenposten werden gestrichen, Berufsanfänger werden unmittelbar nach dem Auslesewettbewerb ins kalte Wasser geworfen. Das bekommt weder ihnen noch ihren Schülern.
Ein Collège in Epinay-sur-Seine, zehn Kilometer nördlich von Paris. Der grüne Metallzaun schirmt die Mittelschule von der Außenwelt ab. Pünktlich halb fünf sperrt ein Aufseher das Tor auf. Über hundert Schüler strömen auf die Straße. Auch Marion verlässt das Schulgelände. Die junge Lehrerin hat ihren Unterricht beendet, Arbeit hat sie dennoch zuhauf. Sie setzt sich in ein Café mit Fernseher und Flipperauto-maten, legt einen Packen Formulare auf den Tisch.

"Ich muss schnell diese Papiere ausfüllen, es sind Platzverweise. Sechs Jugendliche habe ich heute vom Unterricht ausgeschlossen. Das muss ich nun begründen. Dann werden diese Dokumente an die Eltern geschickt."

Marion bestellt einen Kakao. Sie ist 27 Jahre alt, klein und zierlich. Mit ihren langen braunen Haare und dem Fransenpony sieht sie mädchenhaft aus. Aber ihr Gesicht wirkt entschlossen. Sie zieht einen grünen Kuli aus der Tasche und macht Notizen:

"Dieser Schüler hier zum Beispiel ist völlig ausgerastet. Er ist 14 Jahre alt und einen Kopf größer als ich. Erst hat er sich auf einen fremden Platz gesetzt und wollte partout nicht aufstehen. Dann hat er mir Rede und Antwort verweigert. Als ich ihm mit Platzverweis drohte, hat er den Videoprojektor und den Computer umgestoßen, die Geräte wären fast vom Tisch gefallen."

Der Berufsanfängerin steht die dienstliche Beurteilung bevor. Von der hängt ab, ob sie auf Lebenszeit verbeamtet wird. Marion hat einen Master in Geschichte und Geografie. Vor einem Jahr absolvierte sie den staatlichen Auslesewettbewerb zum Lehrerberuf. Es war ihr zweiter Anlauf. 3.500 Kandidaten hatten sich um die 620 Lehrerstellen in ihrem Fachbereich beworben. Seit September ist sie "enseignante stagiaire". Als "Lehrerin im Praktikum" unterrichtet sie nun drei sechste und drei achte Klassen, 18 Stunden pro Woche, genau wie die verbeamteten Kollegen. Wusste sie, was sie erwartet?

"Oh nein, Unterrichten – darauf wurden wir nicht vorbereitet. Ich habe gelernt, eine Prüfung zu bestehen. Ich kann wissenschaftlich arbeiten und argumentieren. Jetzt unterrichte ich sechs Klassen mit 160 Schülern."

Vergangenes Jahr hat Frankreich seine Lehrerausbildung umgestaltet - Marion betrachtet sich als Opfer der Reform. Zuvor, sagt sie, hatten Berufsanfänger wie sie noch eine Art Referendarausbildung: Im ersten Berufsjahr mussten sie nur ein Drittel ihrer Arbeitszeit unterrichten, in der übrigen Zeit wurden sie zu Pädagogen aus-gebildet. In diesem Schuljahr wurden alle neuen Lehrer – 16.000 junge Menschen - ins kalte Wasser geworfen. Wie man eine Klasse leitet, seinen Unterricht gestaltet, Schüler diszipliniert und Klausuren vorbereitet – das erfährt Marion jetzt erst nach und nach in begleitenden Seminaren, die sie zusätzlich zum Unterricht absolvieren muss.

"Ich werde wahrscheinlich Probleme bekommen, weil ich zu viele Strafen erteile. Die vielen Platzverweise – sie verweisen auch darauf, dass der Lehrer nicht klar kommt mit der Klasse und dass es ihm schlecht geht. Das kann die Hierarchie gegen mich, die Praktikantin, auslegen."

Marion zeigt aus dem Fenster: Bescheidene Einfamilienhäuser wechseln mit großen Wohnblöcken, die ärmlich aussehen. Außer einem Discountladen sind keine Geschäfte zu sehen.

"Hier lebt der ärmere Teil der Bevölkerung. Viele Eltern unserer Schüler sind arbeitslos. Die Kinder haben jede Menge Probleme. Der Junge, den ich aus dem Unterricht geschickt habe, gilt als gewalttätig. Wie soll ich mit ihm umgehen? Ich habe ja nicht einmal gelernt, sogenannte normale Schüler zu leiten… Ich probiere alles Mögliche aus, selbst die mütterliche Tour, obwohl das als total unprofessionell gilt."

Wie in vielen Vorstädten von Paris wurden auch in Epinay-sur-Seine in kürzester Zeit riesige Siedlungen aus dem Boden gestampft. Dort wohnen vor allem die Arbeiter, die Frankreich in seinen ehemaligen Kolonien in Afrika angeworben hat. Innerhalb von Jahrzehnten hat sich die Bevölkerung der Stadt verdreifacht. Heute leben 53.000 Menschen in Epinay-sur-Seine.

Die junge Lehrerin wartet nicht auf den Bus. Sie läuft lieber bis zur Regionalbahn, so kann sie ihren Stress abschütteln. Ihr Weg führt an weiteren Wohnblöcken vorbei, die von staubigen Parkplätzen mit dürren Bäumen umgeben sind. In diesem Viertel wohnen die meisten ihrer Schüler, sagt Marion. Ausnahmslos alle stammen aus Einwandererfamilien.

"Meine Schüler sind zu einem Drittel Afrikaner, zu einem Drittel Tamilen und Inder, zu einem Drittel Araber. Ich habe nicht einen einzigen kleinen Jean-Francois in meinen Klassen."

Eigentlich, heißt es im Bildungsministerium, sollen Berufsanfänger nicht in sozialen Brennpunkten eingesetzt werden. Aber das steht nur auf dem Papier. Seit jeher werden auch junge Lehrer in Gegenden geschickt, die zu "Zones d´Education Prioritaire" erklärt wurden, zu sogenannten vordringlichen Bildungszonen. Sie wurden 1982 ins Leben gerufen, um soziale, wirtschaftliche und kulturelle Ungleichheiten zu korrigie-ren. Die meisten befinden sich in der Banlieue, den Vorortsiedlungen mit hohem Einwandereranteil. Ältere Lehrer, die in solchen Vierteln unterrichten, lassen sich in der Regel sobald wie möglich in andere Schulen versetzen.

Das Collège, in dem Marion unterrichtet, liegt zudem in einer so genannten "Zone zur Vorbeugung gegen Gewalt". Das bedeutet, dass die Schule hier mit anderen Institutionen wie Polizei, Justiz oder städtischen Einrichtungen zusammenarbeitet, um Gewalttaten zu verhindern und Schüler zu schützen. Denn in Epinay-sur-Seine liegt die Kriminalitätsrate weit über dem Landesdurchschnitt.

"In meinen Klassen spüre ich viel Gewalt. Keine handgreifliche Gewalt mit Kerlen, die den Bandenführer spielen, nein, eher eine latente Aggressivität. Diese Kinder saugen den ganzen Stress auf, der sie umgibt."

Eine dreiviertel Stunde später: Marion hat die Schnellbahn genommen, dann die Metro – jetzt ist sie zuhause in Paris, sperrt ihre Wohnung auf, stellt die Tasche ab, sie ist seit 6 Uhr auf den Beinen. An ihre ersten Unterrichtsstunden erinnert sie sich noch genau.

"Am 1. September habe ich entdeckt, was das ist, eine 6. Klasse und eine 8. Klasse. Ich war völlig überrascht, dass ein 11-jähriger Schüler nicht weiß, was ein Maßstab ist und dass er keine Legende lesen kann. So kam es, dass ich ins Leere geredet habe. Sie haben mir mit großen Augen zugehört und absolut nichts verstanden."

Anders als in Deutschland werden in Frankreich Kinder und Jugendliche bis zur 9. Klasse nicht nach Schultypen getrennt. Erst danach erfolgt die Aufteilung zwischen Gymnasium und Berufschule. So kommt es, dass schwache Schüler mitgezogen werden, bis sie 15 oder 16 Jahre alt sind, selbst wenn der Stoff sie völlig überfordert. Die Klassen werden zudem bewusst heterogen zusammengesetzt, Eliteklassen soll es nicht geben. Eltern, die diesem System nicht vertrauen, schicken ihre Kinder deshalb gerne in Privatschulen, die freie Wahl ihrer Schüler haben und aufsässige Jugendliche hinauswerfen können.

An öffentlichen Schulen bleibt den Lehrern die schier unerfüllbare Aufgabe, den Unterricht so zu gestalten, dass alle Schüler daran teilhaben können und auch die Besten auf ihre Kosten kommen. Marion ist das in ihrer 8. Klasse gründlich misslungen. Die Folgen muss sie bis heute ausbaden.

"Wenn sich Jugendliche langweilen, fangen sie an, Terror zu machen. Drei Wochen nach Schulbeginn ging es los: Sobald ich ihnen den Rücken zukehrte, fingen sie an zu miauen. Wie Katzen. Auch im Flur, kaum ging ich vorbei, miau. Es war schrecklich, ich wusste nicht mehr ein noch aus. Die Schulleitung und die Kollegen haben mir dann sehr geholfen. Sie haben dafür gesorgt, dass es aufhört. Aber jetzt sind die Schüler total passiv. Es gibt keine Kommunikation mehr."

Disziplin wird in Frankreich bis heute groß geschrieben. Für Eltern und auch Schüler gilt: ein guter Lehrer ist derjenige, der in der Klasse für Ordnung sorgen und einigermaßen Ruhe erzeugen kann. Ob der Unterricht interessant ist, erscheint zweitrangig. Die Stärke des Lehrers wird daher ständig getestet und sobald einer einen Anflug von Schwäche zeigt, turnen die Schüler über Tische und Bänke.

Eine Kollegin besucht Marion: Julie, die drei elfte Klassen im Gymnasium von Epi-nay-sur-Seine unterrichtet. Obwohl ihre Schüler älter sind, hat sie ähnliche Erfahrungen wie ihre Kollegin gemacht. Gegen ihren Willen wurde auch ihr als junge Lehrerin eine Klasse übertragen. Julie holt eine DVD aus der Tasche und schiebt sie in den Computer.

Die DVD mit dem Titel: "Eine Klasse leiten" wurde von der Schulakademie an alle Junglehrer verteilt. Sie zeigt sind kurze Videos, in denen Lehrer erklären, wie man Autorität und Respekt erzielt, für Disziplin sorgt, mit Lob und Strafen umgeht und die Schüler zum Arbeiten bringt.

"Da erklärt uns ein Lehrer, wie er Ruhe erzeugt: Er geht auf einen Schüler zu und legt zwei Finger auf dessen Tisch. Er behauptet, dass die Schüler dann auf der Stelle ruhig sind. Ich weiß aber haargenau, wenn ich gezielt auf einen Tisch zugehe, bewirkt das gar nichts. Wenn ich dann noch meine Finger auf den Tisch legen würde, gäbe das im besten Fall Gelächter. Zwischen diesen Tipps und der Realität besteht eine solche Diskrepanz, dass sie mir wie ein absurder Scherz vorkommen."

Von der Reform der Lehrerausbildung sind auch die Grundschulpädagogen betroffen. Seit November trägt auch jeder junge Primarlehrer die volle Verantwortung für eine Klasse. Wie Lola, 23 Jahre alt, die ein Diplom in englischer Literatur hat, was ihr in der Grundschule nicht wirklich nützt.

Um die mangelhafte staatliche Ausbildung auszugleichen, hat die Gewerkschaft der Grundschullehrer jetzt eine Fortbildungsreihe für Berufsanfänger konzipiert. Lola nimmt an allen Seminaren teil. Sie ist froh, dass sie sich dort mit ihren Kollegen aus-tauschen und Hilfe bekommen kann.

"Welche Haltung nehme ich als Lehrerin vor meinen Schülern an? Für mich ist es sehr wichtig, wie meine Kollegen dieses Problem lösen. Ein Jeder von uns stellt sich die Frage: Wie soll ich mich 18 Stunden pro Woche vor meiner Klasse verhalten, wo ich doch letztes Jahr selbst noch Studentin war."

Jerome Lambert organisiert die Fortbildungen der Grundschullehrergewerkschaft. Der Gewerkschaftler hat wenig Hoffnung.

"Die Regierung betrachtet die Schule als Kostenfaktor, der reduziert werden muss. Seit Jahren streicht sie massiv Lehrerstellen. Die Ausbildung wurde auch geschröpft, um Geld zu sparen. Früher wurden die Berufsanfänger ein Jahr lang ausgebildet und während dieser Zeit bezahlt. Das fällt jetzt weg. Sie werden sofort voll eingesetzt. Eine korrekte Ausbildung kostet aber nun mal Geld – und diese Regierung ist nicht bereit, Geld für die Schulen auszugeben."

Seit 2007 baut das stark verschuldete Frankreich massiv Beamtenstellen ab. An den Schulen fielen in den vergangenen vier Jahren 50.000 Lehrerstellen weg. In diesem Jahr sollen erneut 16.000 Posten verschwinden, und das bei steigenden Schülerzahlen. Die Gewerkschaften finden kein Gehör. Sie beharren trotzdem auf ihren Forderungen.

Auch die Junglehrer organisieren sich: Trotz der Überlastung im Beruf haben sie eine Protestorganisation mit dem Namen "Stagiaire Impossible" gegründet, das heißt so viel wie "unmögliches Praktikantentum". Ziel ist es, die Öffentlichkeit aufzurütteln und die Regierung zum Umdenken zu bewegen.

An diesem Samstagnachmittag hat das Protestkollektiv ein Treffen mit Vertretern aus ganz Frankreich anberaumt. Etwa 30 junge Leute sind in der "Bourse du Travail" zusammen gekommen, dem historischen Treffpunkt der Gewerkschaftsbewegung mitten in Paris. Nachdem Tische und Stühle zu einem großen Rechteck aufgestellt sind, stellen sich die Anwesenden vor und berichten über die Probleme in den verschiedenen Regionen und welche Protestaktionen sie auf die Beine gestellt haben.

Mathias ist Französischlehrer, er vertritt Junglehrer aus dem Departement Bouches du Rhône, rund um Marseille. Romain ist für die Schulakademie Orleans und Tour angereist, Nicolas kommt aus Rouen, Yohanna unterrichtet Philosophie in Montpellier. Die zierliche Frau zieht ein Heft aus der Tasche: es ist ein Schwarzbuch, in dem die Berufsanfänger aus der Provinz Languedoc-Roussillon ihren Praxisschock schildern. Auch in der Schulakademie Creteil, die den ganzen Norden und Osten von Paris mit den vielen sozialen Brennpunkten umfasst, wurden 150 Erfahrungsberichte gesammelt. Anonym natürlich, um eine Abstrafung bei der dienstlichen Beurteilung zu vermeiden.

"Stagiaire Impossible" hat es geschafft, Mitte Februar im Pariser Bildungsministerium empfangen zu werden. Die Französischlehrerin Caroline beschreibt das Treffen.

"Wir waren zwei Abgeordnete des Protestkollektivs Stagiaire Impossible und haben unsere Forderungen vorgetragen: Vor allem, dass wir im ersten Berufsjahr nur ein Drittel unterrichten und in der übrigen Zeit anständig ausgebildet werden wollen. Wir wurden freundlich empfangen, man hat uns angehört, das war alles. Sie haben uns nichts vorgeschlagen. Wir stehen vor einer verriegelten Tür. Bildung ist die einzige Zukunftschance für Kinder und Jugendlichen. Deshalb ist es absolut nötig, uns Lehrer so auszubilden, dass wir auch schwachen Schülern helfen können. Und dazu sind wir nicht in der Lage. Unser Kampf gliedert sich also in einen größeren Rahmen ein: wir wollen das Qualitätsniveau der staatlichen Schule verteidigen."

Nationaler Aktionstag in Paris: Wieder einmal rufen die Lehrergewerkschaften zur Demonstration auf, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen

"Lehrer ohne Ausbildung, Schüler ohne Chance", ruft ein Demonstrant ins Megaphon. Marion und Julie, die beiden Geschichtslehrerinnen aus der Pariser Vorstadt Epinay-sur-Seine, tragen ein Transparent mit der Aufschrift: "Bildet uns besser aus".
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