Kein chemischer Vorgang

20.09.2013
Wissenschaftlich solide lässt der Reanimationsmediziner Sam Parnia die Entwicklung hin zu modernen Wiederbelebungsmethoden Revue passieren. Die Beweislage zum Realitätsgehalt von Nahtoderfahrungen bleibt allerdings sehr dünn.
Dramatisch beginnt das Buch "Der Tod muss nicht das Ende sein" des US-amerikanischen Reanimationsmediziners Sam Parnia. Erzählt wird die Geschichte von Joe Tiralosi, der 2009 einen Herzstillstand erlitt. Fast 50 Minuten kämpften Ärzte um das Leben des Mannes, dessen Herz nicht mehr schlug und dessen Stammhirn keine Aktivität mehr zeigte. Klinisch betrachtet war Joe Tiralosi tot. Doch die Ärzte hatten den Patienten während ihrer Behandlungsversuche dauerhaft künstlich unterkühlt, und so konnte sich das Wunder ereignen: Talosi überlebte - ohne Gehirnschädigung. Später berichtete er von seiner Nahtoderfahrung, von einem Tunnel, einem Lichtwesen und vom Gefühl unendlicher Liebe und Geborgenheit. Seitdem hat der New Yorker Chauffeur keine Angst mehr vor dem Tod, mehr noch: Er sei seitdem liebevoller, zugewandter und großzügiger.

Auch wenn das esoterisch wabernde Umschlag-Design es kaum vermuten lässt: In seinem Buch setzt sich Sam Parnia wissenschaftlich solide mit dem Phänomen der Nahtoderfahrungen auseinander. Dafür steht er als Leiter der weltweit größten Studie zum Thema Geist und Gehirn bei Herzstillstand: "Awareness during Resuscitation (Aware)", so der Titel, es geht also um das Bewusstsein während der Wiederbelebung. 25 große Krankenhäuser in Europa, Kanada und den USA untersuchen seit einigen Jahren 1500 Herzstillstand-Überlebende auf Nahtoderfahrungen. Unter anderem prüfen sie mit im Raum installierten Objekten, ob Menschen, die im Sterben ihren Körper zu verlassen meinen, sich selbst und die arbeitenden Ärzte tatsächlich von oben sehen können.

Fehlende Forschungsgelder
Berichte von Nahtoderlebnissen verdanken sich vor allem modernen Reanimationsmethoden, betont der Autor. Darum lässt er deren Entwicklung zunächst bodenständig Revue passieren und übt Kritik am Stand der Dinge: Es gebe zu wenig Forschungsgelder für die lebensrettende Wiederbelebungsmedizin. In der Ausbildung friste sie ein Schattendasein, verbesserte Methoden fänden kaum Eingang in den Krankenhausalltag.

Erst wenn das Buch Nahtoderlebnisse im engeren Sinne diskutiert, wird deutlich, wie weit sich Sam Parnia vom naturwissenschaftlichen Mainstream absetzt. Eine Absage erteilt er Interpretationen, wonach sich Lichterscheinungen aus dem Chemismus des sterbenden Gehirns erklären lassen, etwa als Halluzination aus Mangel an Sauerstoff. Das Gehirn von Toten zeigt keinerlei elektrische Aktivität mehr, betont der Autor. Das sollte nach gängiger Lehrmeinung und ganz gleich, welche chemischen Vorgänge sich sonst noch abspielen, zum totalen Erliegen aller Formen von Bewusstsein führen. Hier öffnet sich nun auch die Tür zumindest zum Überschreiten konventionell-wissenschaftlicher Konzepte: Denn wenn Menschen mit toten Gehirnen etwas erleben können - wo werden dann Bewusstsein und Erleben erzeugt?

So überzeugend der Autor hier argumentiert, so mau bleibt seine Datenlage zum Realitätsgehalt außerkörperlicher Erfahrungen. Bislang ging ihm kein einziger Fall ins Netz. So bleibt das Buch ein überzeugendes Plädoyer für den Ausbau der Reanimationsmedizin, ein ernst zu nehmender Debattenbeitrag zum Nahtodphänomen - und kann die Sehnsucht nach einem Überdauern geistiger Aktivitäten nach dem Tod doch nicht in wissenschaftlich harte Münze übersetzen.

Besprochen von Susanne Billig

Sam Parnia: Der Tod muss nicht das Ende sein - Was wir wirklich über Sterben, Nahtoderlebnis und die Rückkehr ins Leben wissen
Übersetzt von Juliane Molitor
Scorpio Verlag, München 2013
399 Seiten, 19,99 Euro
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