Katja Lange-Müller: "Drehtür"

Erinnerungen einer Randfigur

Eine Krankenschwester schiebt einen Infusionsständer über den Flur der Medizinischen Klinik des Werner-Forßmann-Krankenhauses in Eberswalde.
Eine Krankenschwester schiebt einen Infusionsständer über einen Krankenhausflur. © picture alliance / dpa / Hans Wiedl
Von Maike Albath · 01.10.2016
Die Déjà-vus einer Krankenschwester sind Ausgangspunkt für Katja Lange-Müllers hoch verdichteten Episoden-Roman "Drehtür". Ihr Mosaik aus Geschichten versammelt eindringliche Milieustudien – und stellt fundamentale Fragen des Menschseins.
Erinnerungsblitze prasseln nieder, Episode reiht sich an Episode – und nach jedem Vergangenheitsschub zündet sich die Krankenschwester Asta Arnold wieder eine Zigarette an. Die 65-Jährige steht an einer Drehtür am Flughafen München-Riem, wo sie auf dem Rückweg von ihrem letzten Einsatzort in Nicaragua gestrandet ist. Ihr Koffer ist unterwegs verloren gegangen, und wo sie eigentlich hin soll, weiß die von der Reise und vom Leben zerschlissene Asta auch nicht so genau. 22 Jahre war sie im Dienst verschiedener Hilfsorganisationen, und jetzt muss sie mit der Unwirtlichkeit deutscher Gegenwart zurechtkommen.
Die Drehtür bildet auch das formale Prinzip des gleichnamigen Romans von Katja Lange-Müller. Die Déjà-vus der Krankenschwester ergeben eine Miniaturen-Serie, ein Mosaik aus Geschichten, die ebenso im Ost-Berlin der Siebzigerjahre spielen wie im Berliner Westen der Achtziger, in Nicaragua und in Tunesien. Zu den Protagonisten zählen Weggefährten, Freunde oder ehemalige Geliebte, und wie immer bei Katja Lange-Müller kommen etliche Tiere vor. Wie sich das Verhältnis unter den Artgenossen gestaltet, ist das Grundmotiv der hoch verdichteten Episoden.

Die Bedeutung des Wortes "Gutsherrenwurst"

"Drehtür" setzt ein mit einer Sprachbefragung. Die Ich-Erzählerin klopft die Wörter auf ihre Bedeutung ab, denkt über die Bedeutung von "Blitzgewitter" oder "Gutsherrenwurst" nach, beobachtet Reisende und lässt sich von ihren Assoziationen leiten. Ihr kommt ein zahnschmerzgeplagter koreanischer Koch in Ost-Berlin in den Sinn, den sie kurzerhand mit nach Hause nahm, wofür sie statt der erhofften erotischen Erfüllung einen Blumenstrauß der koreanischen Genossen von der Botschaft kassierte. Dann fällt ihr die Kollegin Tamara ein, an die sich die Geschichte der DDR-Ikone Tamara Bunke knüpft, jener Revolutionärin, die im Gefolge von Che Guevara 1967 in Bolivien erschossen wurde. Astas Tamara besaß schriftstellerische Ambitionen und folgte einer Einladung nach Indien, wo sie für misshandelte Frauen durch ihr Mitleid zur Hoffnungsträgerin wurde.

Tod und Vergänglichkeit auf beiläufige Weise behandelt

Ein Anzugträger in Flip-Flops erinnert die Heldin an einen Freund aus Ost-Berliner Zeiten, einen begabten Maler, der ebenfalls im Westen landete und nach einer spektakulären Ausstellungseröffnung all seiner Werke beraubt wurde.
Der Roman bietet eindringliche Milieustudien, durchkomponierte Prosabilder von Soziotopen, die um die Frage der Nächstenliebe und den Umgang mit der Kreatur kreisen. Was bedeutet Menschlichkeit? Wie geht der Mensch mit Tieren um? Oft sind es Randgestalten, die Mühseligen und Beladenen, denen sich Asta zuwendet. Erstmals aufgetaucht war Asta bereits in der Erzählung "An einem Strand" aus dem Band "Die Enten, die Frauen und die Wahrheit" (2003), in der sie einem sterbenden Hund beistand. In dem neuen Roman wird die Heldin immer wieder von einem Schwindelgefühl ergriffen, die Erzählperspektive changiert. Schwere Zeichen, wie Tod und Vergänglichkeit, werden auf beiläufige Weise behandelt. Dass dies an einem klassischen non-lieu passiert, einem Nicht-Ort, wie man den Flughafen mit einem Begriff des Anthropologen Marc Augé charakterisieren könnte, passt zum Zustand Astas. Vielleicht ist die Drehtür nichts anderes als der Eingang zum Hades.

Katja Lange-Müller: Drehtür
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016
216 Seiten, 19 Euro