Kathy Zarnegin: „Exerzitien des Wartens“

Wenn die Zeit qualvoll langsam vergeht

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Buchcover zu Kathy Zarnegins "Exerzitien des Wartens".
Mit "Exerzitien des Wartens" hat Kathy Zarnegin für die Coronazeiten das Buch zur Stunde geschrieben. © Bucher Verlag
Von Anne Kohlick · 16.04.2020
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Warten ist ein Zustand, der uns gerade alle verbindet: warten auf das Ende der Coronakrise. Noch bevor das Virus die Welt veränderte, hat Kathy Zarnegin ein Buch über diese Stunden geschrieben, in denen die Zeit sich in die Länge zieht.
"Allen, die die Tage zählen, bis…" widmet die Schweizer Autorin Kathy Zarnegin ihr neues Buch "Exerzitien des Wartens". Damit könnte sie wohl im Moment keinen größeren Kreis ansprechen: Auf der ganzen Welt warten Menschen – darauf, dass sie ihre Wohnung wieder verlassen dürfen, ihre Freunde umarmen können, dass die Normalität zurückkehrt.
Es ist aber ein Warten vor Corona, über das die Literaturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Kathy Zarnegin in ihrem Buch in pointierten, kurzen Texten nachdenkt: die Warteschlange an der Kasse im Supermarkt – noch ohne Abstandsmarkierungen – die Ungeduld, mit der Kinder die Ferien herbeisehnen, das Warten auf die Nachricht einer geliebten Person. Obwohl dieses individuelle Warten etwas anderes ist als die global gedrückte Pause-Taste angesichts des Virus, passt Kathy Zarnegins Sammlung von Aphorismen und Miniatur-Essays - viele nur wenige Sätze lang, andere ein paar Seiten -bestens zur aktuellen kollektiven Stimmung.

Absurdität des Daseins

"Durch Warten wird die Gegenwart aufgewertet. Sie wird zur empfundenen Zeit, zur überschäumenden Zeit", beschreibt die Autorin ein Paradox, das wir alle kennen: Gerade dann, wenn wir uns wünschen, dass die Zeit schnell vorbeigeht, zieht sie sich in die Länge. Mit Ritualen des Wartens versuchen wir, sie zu vertreiben: indem wir auf und ab gehen, immer wieder aufs Handy schauen, im Wartezimmer beim Arzt in Zeitschriften blättern, die uns eigentlich gar nicht interessieren.
Während wir uns in Stressphasen nach Zeit fürs dolce far niente sehnen, ist uns "das Nichtstun (-Können oder -Dürfen) des Wartens" zutiefst unangenehm. Denn darin vergegenwärtigt sich für Kathy Zarnegin "die Dimension des menschlichen Daseins, seine Absurdität, seine Sinnlosigkeit" – wie in Samuel Becketts "Warten auf Godot". Geschickt verwebt die Autorin so Alltagsbeobachtungen und Bezüge zu Literatur und Philosophie – zu Sokrates, Proust oder Nietzsche, der 1878 davor warnte, Menschen lange warten zu lassen: Das sei "ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen".

Rasender Stillstand

Kulturpessimistisch klingt Kathy Zarnegin, wenn sie sich auf den französischen Medientheoretiker Paul Virilio und seine Idee des "rasenden Stillstands" bezieht: Die technologische Beschleunigung unserer Kommunikation werde zu einem Niedergang der Zivilisation führen, sagte Virilio 1990 voraus. Belege dafür sieht die Autorin im 'Nicht-mehr-warten-können' junger Menschen von heute: Textnachrichten würden häppchenweise abgeschickt, anstatt sich die Mühe zu machen, den ganzen Gedanken auszuformulieren und erst dann auf Senden zu drücken.
"Ungeduld" und "Hirnlosigkeit" assoziiert sie mit digitalen bildbasierten Kultur- und Kommunikationsformen und wettert gegen das Bachelor-Master-System an den Universitäten. An diesen Stellen bekommen Kathy Zarnegins sonst so geistreiche und überraschende Gedankengänge den vorhersehbaren und ermüdenden Charakter eines "Früher war alles besser". Eine Haltung, die die Autorin immerhin gegen Ende des Buches selbst reflektiert: "In manchen Eigenschaften ändert sich der Mensch nie, zum Beispiel in seinem Urteil über die Jugend." Konstant abfällig sei das schon seit über 3.000 Jahren. Aber vielleicht ändert sich auch das, wenn wir lange genug warten?

Kathy Zarnegin: Exerzitien des Wartens
Bucher Verlag, Hohenems 2020
80 Seiten, 13,50 Euro

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