Kathrin Schmidt: "Kapoks Schwestern"

Tiefenbohrungen in die deutsche Vergangenheit

Brandenburger Tor bei Kriegsende 1945
Das stark beschädigte Brandenburger Tor bei Kriegsende am 01.05.1945. © picture alliance/dpa/Foto: RIA Novosti
Von Maike Albath · 08.12.2016
Flucht aus Berlin, Emigration nach Moskau, Aufbaujahre in der DDR. In Kathrin Schmidts "Kapoks Schwestern" reist der Leser durch die deutsche Geschichte. Der Autorin ist mit dem Roman ein schillerndes Epochenbild gelungen.
Diese Schwestern haben es in sich: Claudia und Barbara Schaechter. Dass sie allmählich in ein gesetztes Alter kommen, kümmert das kinderlose Doppelgespann überhaupt nicht. Sie schwelgen in ihren Schrullen, gehen ihren Berufen als Schneiderin und Bezirksamtsangestellte nach, pflegen ihr ererbtes Haus im Baustil von Walter Gropius im Berliner Ostbezirk Hellersdorf und scheinen ganz und gar in der Gegenwart verankert. Doch als an einem Spätsommertag der Bruder ihrer Nachbarin Renate Kapok auftaucht, holt sie die Vergangenheit ein.
Werner, vom Leben einigermaßen gebeutelt, ausgesonderter Professor im Bereich Marxismus-Leninismus und mittlerweile im mecklenburgischen Trebesee beheimatet, war ihr Kindheitsfreund. Die Schwestern werden von einem Wirbel an Déjà-vus mitgerissen, die über hundert Jahre zurückreichen und die gesamte jüdisch-kommunistische Familiengeschichte umfassen. Werner Kapok, Sohn eines getreuen Parteisoldaten, in der Nachwendezeit auf der Kippe zur Verwahrlosung, geht es genauso.

Flucht nach Moskau und Aufbaujahre in der DDR

Kathrin Schmidt arbeitet mit Tiefenbohrungen und legt Schicht um Schicht der verschütteten Vergangenheit frei. Die Berliner Schriftstellerin, 1958 in Gotha geboren, für ihre autobiografisch grundierte Krankengeschichte "Du stirbst nicht" 2009 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, besitzt große literarische Virtuosität. Sie entwirft ein Tableau mit einer Fülle einprägsamer Figuren. Die Flucht aus Berlin und die Emigration nach Moskau kommen ebenso vor wie die Aufbaujahre in der DDR mit ihrem Enthusiasmus und die Ernüchterung einige Jahre später. Von Judentum und Verfolgung wollte man damals nichts wissen. Die Handlung springt vor und zurück und fesselt durch überraschende Wendungen und Pointen.
Die Auflösung der Chronologie ist ein ästhetisches Verfahren, entspricht aber auch Schmidts Geschichtsverständnis. "Die Zeit ist eine Dampframme, der nichts widersteht", heißt es einmal. Das elterliche Erbe wirkt in den Tiefenschichten dennoch weiter. Barbara und Claudia erreicht plötzlich ein Lebenszeichen aus Sarajewo, wo die Anfang der 1930er-Jahre auf der Flucht in Wien zurückgelassene jüngste Schwester ihres Vaters Joachim auftaucht. Diese unbekannte Tante Lea wird ebenso besucht wie ein entfernter Cousin in Indien. Die Autorin geht auch den verschiedenen Ausprägungen eines linken Bewusstseins nach. Was hieß es für die Elterngeneration, vom Kommunismus überzeugt zu sein?

Willkür der sowjetischen Führung

Joachim Schaechter erlebte schon früh die Willkür der sowjetischen Führung und kehrte als Soldat der Roten Armee nach Berlin zurück. Er besaß ein von Intellektualität durchdrungenes, eher skeptisches Politikverständnis, während das Familienoberhaupt der Kapoks einen quälend linientreuen, kleinkarierten DDR-Sozialismus vertrat. Mit "Kapoks Schwestern" sprengt Kathrin Schmidt nicht zuletzt das Genre des biederen Familienromans. Nur die postklimakteriellen Liebesgeschichten der Schwestern sind vielleicht eine Spur zu dick aufgetragen. Aber ihr gelingt ein schillerndes Epochenbild. Erst als sich ihre Heldinnen der Vergangenheit stellen und ihre Geschichte als Teil ihrer selbst anerkennen, gewinnen sie Autonomie.

Kathrin Schmidt: Kapoks Schwestern
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016
444 Seiten, 22 Euro