Katholische Zensurgeschichte

Reszensiert von Holmar Attila Mück · 13.02.2006
An Literatur über den Bücher-Index des Vatikans mangelt es nicht, jedoch verdient das neue Buch von Hubert Wolf besondere Beachtung, gehört der Autor doch zu der ersten Generation von Historikern, die Zutritt in die Bibliothek des Vatikans erhielten. Fehlurteile, Kuriosa, Fälschungen – Wolf fand von allem etwas.
Das sei voran gestellt: Es handelt sich hier um keine Sensation! Als Papst Paul VI. mit der Notification vom 14. Juni 1966 den Bücher-Index außer Kraft setzte, konnte dieser auf eine 400-jährige Geschichte zurückblicken. Es nimmt also nicht wunder, wenn man heute auf eine recht üppige Publikation zum Thema "Index" und "die verbotenen Bücher" zurückgreifen kann. Nur: Die frühen Historiker standen vor verschlossenen Archiv-Türen.

Natürlich hat man in Rom das druckfrische Exemplar von Hubert Wolf bereits zur Kenntnis genommen, womit die Frage nach dem wirklichen Ende des "Index", der Zensur, ihre grundsätzliche Beantwortung findet. Man liest im Vatikan natürlich weiter. Aber die Autoren und Historiker finden heute eine ganz andere Situation vor. Hubert Wolf schreibt darüber im Prolog:

"Wenn sich Historiker ernsthaft den Themen 'Index' und 'Inquisition' zuwandten,
konnten sie meistens nur Opfergeschichten schreiben, weil die Sphäre der Täter hinter den dicken Mauern des Vatikans verborgen blieb.

Die Hintergründe eines Zensurverfahrens und der Prozessverlauf, die Ankläger und Denunzianten sowie ihre Absichten, die beteiligten Gutachter und ihre Voten, die internen Diskussionen der Konsultoren und Kardinäle, die eigentlichen Urteilsgründe und die Rolle des Papstes blieben dagegen meist völlig im Unklaren.

Nicht wenige Autoren hatten in Rom ein Verfahren am Hals, ohne davon etwas mitbekommen zu haben. Wieder andere waren faktisch in Rom nie denunziert worden, aber nicht selten konnte allein aus dem Gerücht einer Anzeige vor der Inquisition von Gegnern eines Verfassers politisches Kapital geschlagen werden."

Dass Autoren schon deshalb auf die "schwarze Liste" gerieten, allein, weil sie Protestanten waren oder zufällig im Katalog der Frankfurter Buchmesse standen, der zuweilen vorübergehend auf den Index gesetzt wurde, kann nicht überraschen. Wer aber vermutete schon päpstliche Texte, selbst Teile der Heiligen Schrift, Winnetou oder sogar "Onkel Toms Hütte" und der "Benimm-Papst" Knigge auf dem Index - zumindest als "unter Verdacht stehend".

Fehlurteile, Kuriosa, Fälschungen – überall fand Wolf von allem etwas. Er betrachtet jedoch nicht nur die einzelne Causa, das denunzierte Werk, sondern immer auch die Menschen hinter dem Fall: das Opfer, den Denunzianten, den Gutachter und schließlich die Richter - und am Ende den Papst. Er verweist vom Buch auf das menschliche Schicksal.

Im ersten Teil seines Buches, "Hinter den Mauern des Vatikans!", beginnt Wolf mit der "Erfindung des Buchverbotes" und gelangt über die Entstehungsgeschichte der "Indexkongregation" zur Öffnung der geheimen Archive in Rom. Hier mögen vielleicht einige wenige, mit Fakten überladene Passagen zum raschen Weiterblättern animieren.

Im zweiten Teil – "Im Visier der Glaubenswächter" - präsentiert der Autor neun sehr unterschiedliche Fälle. Aus der Literatur: Heine, Harriet Beecher Stowe und Karl May; aus der Geschichtswissenschaft: Leopold von Ranke und Franz Heinrich Reusch. Dazu drei renitente katholische Theologen und schließlich - Freiherr von Knigge! Es sind auch Geschichten von Verfolgern, die zu Verfolgten wurden und von strengen Inquisitoren, die zu Konvertierten wurden.

Aber nicht alle in Rom denunzierten Autoren waren über ihren Platz auf dem Index böse. Eine bessere Werbung für ihre Schriften konnte es nicht geben. Es reizt, was verboten ist! Die Liste der Dankbaren ist lang!

Zur Rechfertigung des Index als notwendige Maßnahme zur Erhaltung des "wahren Glaubens" lässt Hubert Wolf einen Sekretär der Indexkongregation sprechen:

"Für sämtliche Häretiker und Feinde der Kirche bleibt der Index jedoch immer ein Symbol des Widerspruchs, des Hasses und der Verleumdung, das sie unter dem Vorwand von Ungenauigkeiten, sachlichen Fehlern und typographischen Mängeln bekämpfen, während es ihnen in Wirklichkeit um die Untergrabung des Ansehens und der Autorität der katholischen Kirche und des Heiligen Stuhls gehe."

Mit seiner Prozess-Auswahl, den Fallstudien und Kommentaren belegt Wolf auch, warum die angestrebte Totalkontrolle misslang, ja misslingen musste! Der Index erwies sich als unbrauchbares Instrumentarium gegen Reformation, die Gedanken der Aufklärung und der Moderne.

Mit dem Buch liegt eine seriöse, besonders im zweiten Teil kurzweilig, mitunter spannend geschriebene Studie über ein heikles und dramatisches Kapitel Kirchengeschichte vor. Der vierzigseitige Anhang verrät nicht nur die umfangreichen Quellen, sondern verweist zugleich auf die bedeutsamsten der verbotenen oder freigesprochenen Bücher.

Hubert Wolfs Arbeit setzt keinen Punkt. Es kann nur ein Bindestrich sein. Denn vieles bleibt offen und damit unbeantwortet. So die Frage: Warum standen die Bücher von Lenin, Stalin, Mussolini und Hitler nicht auf dem Index?

Der Autor vermutet als Grund die katholische Auffassung von der Natur der staatlichen Gewalt, wonach diese - nach Römer Kapitel 13 – "von Gott eingesetzt" und demnach unangreifbar sei. Aber so ganz scheint er davon selbst nicht überzeugt zu sein. Das wird unter anderem Gegenstand des nächsten Buches sein.

Hubert Wolf: INDEX – Der Vatikan und die verbotenen Bücher
C. H. Beck Verlag, 2006
300 Seiten, 22,90 Euro