Missbrauch in der Kirche

„Alle Amtsträger müssten zurücktreten“

14:01 Minuten
Regina Ammicht Quinn trägt eine blaue Strickjacke und steht im Freien vor einem Treppenaufgang.
„Ich bin bisher nicht ausgetreten“: Die Theologin Regina Ammicht Quinn geriet mit der rigiden Moral der katholischen Kirche immer wieder in Konflikte. © Margret Garbrecht
Regina Ammicht Quinn im Gespräch mit Sandra Stalinski · 30.01.2022
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Die Theologin Regina Ammicht Quinn hat selbst erlebt, wie erbarmungslos die katholische Kirche mit „Abweichlern“ umging, während sie Missbrauchstäter gedeckt hat. Ein Gespräch über notwendige Konsequenzen und die Frage: Gehen oder bleiben?
Sandra Stalinski: Eine Woche hat er sich Zeit genommen, um das Münchner Missbrauchsgutachten zu lesen, am vergangenen Donnerstag trat der Münchner Erzbischof und Kardinal Reinhard Marx dann vor die Presse, um Stellung zu nehmen. Das Echo darauf war durchwachsen. Gerade die Betroffenen hätten mehr erwartet. Aus der Politik gab es aber auch Lob.

Zwiespältiger Eindruck vom Auftritt des Kardinals

Regina Ammicht Quinn, katholische Theologin und Professorin für Theologische Ethik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen, hat die Ereignisse der vergangenen Woche aufmerksam verfolgt. Sie hat ihre eigene Geschichte mit der katholischen Kirche. Bei ihr ging es ums Berufliche: Da hat sie erfahren, wie erbarmungslos die Kirche mit vermeintlichen „Abweichlern“ umgeht, während sie auf der anderen Seite in den eigenen Reihen sogar Missbrauchstäter gedeckt hat. Wie haben Sie den Auftritt von Reinhard Marx am Donnerstag erlebt?
Regina Ammicht Quinn: Extrem zwiespältig. Kardinal Marx hat sich der Situation gestellt, in der er als Kirchenvertreter und als Mensch ist, das haben andere nicht getan. Insofern ist das gut. Gleichzeitig bleibt bei mir ein sehr schaler Geschmack bei den Beteuerungen von Erschütterung, von Beschämung und davon, dass man jetzt die Opfer in den Mittelpunkt stellt.
Dieser schale Geschmack hat ganz unterschiedliche Gründe, denn neu an diesem Gutachten ist die Detailliertheit, mit der einzelne Fälle nachgezeichnet werden. Alles andere ist nicht neu.

Rhetorik der Erschütterung

Dazu passt, dass auch die Rhetorik nicht neu ist. Als der frühere Papst Johannes Paul II. mit sexueller Gewalt in der Kirche konfrontiert war, äußerte er Erschütterung und Beschämung. Als Papst Benedikt sich in diesem Kontext mit Vorfällen sexueller Gewalt auseinandersetzen musste, ging es im Modus von Erschütterung, Beschämung angesichts abscheulicher Verbrechen und dem Fokus auf Opfer.
Ich selbst wüsste gern, was diese Erschütterung bei Kardinal Marx im aktuellen Fall wirklich bedeutet. Ist es eine Erschütterung, die aus einer grundlegenden Empathie mit den Opfern kommt, oder ist es eine Erschütterung, die aus dem Sprechenden selbst auch ein ganz klein wenig ein Opfer macht?
Stalinski: Aber er hat sich ehrlich entschuldigt, auch persönlich und moralisch Verantwortung übernommen. Reicht das nicht?
Ammicht Quinn: Nein, es reicht trotzdem nicht. Was sich hier vermischt, ist die moralische Verantwortung, die ein Mensch qua Amt für den ihm zugeordneten Bereich übernimmt, und die moralische Verantwortung, die ich für mein eigenes Fehlverhalten übernehme. Hier braucht es wirklich größere Klarheit, sonst haben wir nur einen kirchlichen Winterkorn-Moment.

Verhältnis von Kirche und Staat gehört überprüft

Stalinski: Was hätten Sie erwartet? Was hätte passieren müssen?
Ammicht Quinn: Wenn ich nicht nur über die Pressekonferenz, sondern über die Situation der sexuellen Gewalt in der Kirche überhaupt spreche, dann müssten zwei Dinge passieren. Das Erste ist in der Verantwortung der Politik, denn das Konkordat, das das Verhältnis zwischen Kirche und Staat regelt und in der jetzigen Form aus dem Jahr 1933 stammt, muss von den jeweiligen Ländern neu und kritisch überarbeitet werden.
Stalinski: Was genau meinen Sie, welche Regelungen müssten geändert werden?
Ammicht Quinn: Es müssten alle Regelungen, die da stehen, neu reflektiert werden, ob sie tatsächlich noch in unsere Zeit passen. Das Konkordat gesteht den Kirchen weitreichende eigene Kompetenzen zu. Daher kommt beispielsweise der konfessionelle Religionsunterricht an unseren Schulen, der staatlich bezahlt wird. Daher kommen auch die theologischen Fakultäten an den Universitäten, die genauso staatlich bezahlt werden.
Aber dazu gehören auch die Fragen, wer denn eigentlich in juristischen und strafrechtlichen Fragen entscheiden darf; aber auch in Fragen, welche Professoren und Professorinnen überhaupt berufen werden.

Wie weit reicht das Kirchenrecht?

Stalinski: Da sagen Sie, die Kirchen sollen künftig gar nicht mehr mitreden dürfen?
Ammicht Quinn: Ich glaube, das ist Verhandlungssache. Ich würde nicht sagen, dass das Konkordat per se abgeschafft werden muss, aber wir können das nicht einfach so weitertragen mit dem entsprechenden kirchlichen Arbeitsrecht und mit der Ausnahme, dass Priester beispielsweise, auch wenn sie straffällig werden, nicht unbedingt der staatlichen Gesetzbarkeit unterliegen. Das müssen die Rechtswissenschaftler sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche neu regeln.
Stalinski: Sie haben gerade noch einen zweiten Punkt erwähnt, was passieren noch müsste?
Ammicht Quinn: Ja. Manchmal geht meine Fantasie mit mir durch, das tut sie in diesem Fall auch. Jetzt könnte passieren, dass alle Amtsträger zurücktreten – und zwar egal, ob sie persönlich in schuldhaftes Verhalten verstrickt sind oder nicht. Dass die Verantwortung für den Weiterbestand der Kirche und die Form dieses Weiterbestehens der Kirche an Laien und ins Lokale delegiert wird, an Gruppen, die sich finden. Dass es ein Moratorium gibt, das fünf oder zehn Jahre dauern kann, an dessen Ende dann eine Entscheidung steht.
Das wäre ein gefährliches Experiment, aber das Experiment, das wir jetzt gerade fahren, ist auch gefährlich.

Kein Segen für das Professorenamt

Stalinski: Sie selbst haben in ihrer Biografie negative Erfahrungen mit der katholischen Kirche – und mit Reinhard Marx – gemacht, und zwar in beruflicher Hinsicht. Sie haben eine akademische Laufbahn als Theologin eingeschlagen, haben promoviert, sich habilitiert und wollten Professorin werden. Sie sind zweimal im akademischen Auswahlverfahren für einen Lehrstuhl für Moraltheologie auf Listenplatz 1 gelandet. Was ist dann passiert?
Ammicht Quinn: Mir hat die katholische Kirche zweimal offiziell, mehrmals eher so unter der Hand, das sogenannte Nihil obstat verweigert. Das ist die Zustimmung zu Berufungen. Ich habe nie Gründe dafür erfahren, was sogar im Kirchenrecht widerrechtlich ist. Der Antrag auf Akteneinsicht, den ein Kirchenrechtler für mich gestellt hat, wurde aus formalen Gründen abgelehnt.
Das heißt, ich war in einer kafkaesken Situation; gefühlt habe ich mich eher wie so eine Comicfigur, die mit voller Geschwindigkeit gegen eine Wand prallt und dann so Rauchspiralen über dem Kopf hat. Denn als Frau in dieser Situation, mit Familie, mit Kindern, an einen solchen Ort zu kommen, war vor 20 Jahren nicht einfach und ist es auch heute nicht.

Eine Ungerechtigkeit, die weiterhin besteht

Stalinski: Wie sind Sie damals damit umgegangen?
Ammicht Quinn: Ich habe großes Glück gehabt, ich hatte sehr viel Unterstützung aus dem Kollegen-, Kolleginnenkreis. Ich hatte sehr viel Unterstützung von meiner Familie und letztendlich von der baden-württembergischen Landesregierung, die für mich eine eigene Stelle eingerichtet hat in dieser Situation.
Ich habe mir auch immer selbst versprochen, nie bitter zu werden, weil sich dann das Leben nicht lohnt, wenn man mit Ressentiments lebt. Aber es ist eine fundamentale Ungerechtigkeit, die weltweit immer noch und weiter passiert.

Wunde Punkte der Theologie

Stalinski: Sie haben gesagt, Sie haben die Gründe offiziell nie erfahren. Wie erklären Sie sich das, woran lag es, dass man Sie damals abgelehnt hat?
Ammicht Quinn: Ich kann mir die Gründe natürlich schon vorstellen und ein bisschen was kommt auch unter der Hand. Beispielsweise, dass sich der Bischof von Augsburg, der damalige Bischof Dammertz, nicht vorstellen konnte, dass überhaupt eine Frau auf so einem Lehrstuhl sein könne.
Aber ich habe natürlich über Themen gearbeitet, die wunde Punkte für die Theologie waren und auch heute noch sind: über Sexualität, über Körper, über Geschlechterverhältnisse. Ich fand, dass es höchste Zeit war, sich mit einer fatalen Situation auseinanderzusetzen, die ein hohes Kontrollbedürfnis gegenüber dem Körper und seinen Bedürfnissen hat.

Schubladen der Sexualmoral

Ich fand auch, dass es an der Zeit war, eine traditionelle kirchliche Sexualmoral zu verabschieden, die sich als Schubladenschrank zeigt, in dem einzelne sexuelle Handlungen in gut etikettierten Schubladen sind, sodass man immer weiß, wer was mit wem unter welchen Bedingungen darf. Dann gibt es natürlich auch Schubladen, wo ganz „Giftiges“ drin liegt, zum Beispiel Homosexualität.
Stalinski: Wie blicken Sie auf die heutige Rolle von Reinhard Marx angesichts dieser persönlichen Geschichte mit ihm?
Ammicht Quinn: Der damalige Bischof von Trier, heutiger Kardinal Marx, hat mich damals nicht einmal über eine Entscheidung informiert, die er getroffen hat, die einem De-facto-Berufsverbot gleichkommt. Das ist tatsächlich eine Form von Gewalt.

Ausschluss von Andersdenkenden

Ich bin fest davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Tatsache, dass Kirchenvertreter sexuelle Gewalt entweder direkt befördert oder indirekt in Kauf genommen haben, um sich selbst und die Kirche zu schützen, und der Tatsache, dass Kirchenvertreter versucht haben, Menschen auszuschließen, die Neues und anderes denken.
Kardinal Marx hat in seiner Erklärung von der inneren Freiheit gesprochen, sein Amt aufzugeben und zu gehen. Der hat mir die Freiheit geraubt, zu bleiben und etwas zu verändern.
Stalinski: Es gab in der vergangenen Woche ein gemeinsames Outing von 125 queeren kirchlichen Mitarbeitern, also Menschen, die eine andere Sexualität leben als die, die die Kirche vorgibt. Sie haben das gerade auch schon angesprochen, einer der Gründe, warum Sie mutmaßlich abgelehnt wurden, war auch, weil Sie sich mit solchen Themen von Sexualität beschäftigt haben. Warum ist Sexualität, auch vielfältig gelebte Sexualität für die Kirche bis heute so ein großes Problem?
Ammicht Quinn: Da gibt es historische Gründe und ein ganz bestimmtes Verhältnis zur Tradition, sodass beispielsweise spätantike Strukturen und spätmittelalterliche Vorstellungen immer noch in Dogmen gegossen werden, die in den Köpfen und auf den Schreibtischen mancher zölibatär lebenden Menschen hin- und herbewegt werden.

Angst vor eigenwilligen Körpern

Der zweite Grund: Es gibt etwas, was ich institutionenpsychologische Gründe nennen würde. Die Angst davor, dass eigenwillige Körper, lustvoll gelebte Sexualität und fluide Geschlechterverhältnisse die Ordnung stören.
Das Dritte wäre das Festhalten an merkwürdigen und als moralisch verstandenen Prinzipien, zum Beispiel das Prinzip der Reinheit. Hier gibt es eine interessante Geschichte über ein Opfer sexueller Gewalt – in dem Fall ist es eine nicht kirchliche sexuelle Gewalt:
Maria Goretti, ein italienisches Mädchen, wurde als Elfjährige am Anfang des 20. Jahrhunderts vergewaltigt und, so geht die Geschichte, ermordet, weil sie sich gewehrt hatte. 1950 wurde sie heiliggesprochen und die offizielle Begründung heißt, weil sie den Tod der Sünde vorzog. Ich frage mich, was das für die Millionen von Frauen in Europa bedeutet hat, die im Zuge des Zweiten Weltkrieges vergewaltigt wurden. Darüber müssten wir sprechen.
Stalinski: Sexuelle Gewalt, die jemand erlebt, wurde auch für das Opfer als Sünde gedeutet. Das ist wirklich sehr verquer und skandalös. Sind Sie noch Mitglied in der katholischen Kirche?
Ammicht Quinn: Ja. Aber die Zeit, in der Kirche für mich Heimat war, in der ich als schüchternes Mädchen aus einfachen Verhältnissen gestärkt wurde, die ist lange vorbei. Ich bin bisher nicht aus der Kirche ausgetreten, vermutlich, weil hier auch ein Stück Verbundenheit mit dieser lang vergangenen Zeit mitschwingt. Ein anderes Stück ist die Verbundenheit mit denjenigen Kolleginnen und Kollegen, die in Deutschland, aber auch weltweit – von Indien bis hin nach Lateinamerika –, gegen Widerstände hervorragende Arbeit leisten. Aber wie lange sich das für mich noch so zeigt, das weiß ich nicht.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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