Katharina Wesselmann: "Die abgetrennte Zunge. Sex und Macht in der Antike neu lesen"

Unterkomplexe Frauenrollen und altrömische Disstracks

06:17 Minuten
Dem zornigen Krieger Achilles wird eine junge Frau entrissen
Mit dem "Zorn des Achilles" beginnt Homers "Ilias". Der Krieger wütet, weil ihm die Sklavin Briseis entrissen wird, hier zu sehen in einem Stich von Domenico Cunego (1769). © Imago/Artokoloro
Von Ramona Westhof · 06.09.2021
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Wie sehr hat sich unser Männer- und Frauenbild seit der Antike geändert? Nicht sehr, könnte man nach der Lektüre von Katharina Wesselmanns Buch denken. Mit viel Humor und Bezügen zur heutigen Popkultur liest sie römische und griechische Texte neu.
Männer schreiben über Frauen – und Männer schreiben für Männer. Das, so Katharina Wesselmann, ist schon seit der Antike so und ändert sich nur langsam.
Die Professorin für Fachdidaktik der Alten Sprachen nimmt antike römische und griechische Texte genderkritisch auseinander und findet Muster, die wir heute noch kennen: Unterkomplexe Frauenfiguren ohne Charaktereigenschaften zum Beispiel – wie Penelope, die Gattin des Odysseus, die bei Homer keinen Antrieb hat, außer keusch auf ihren Mann zu warten.

Eine Frage der Ehre

Auch andere Frauenfiguren kommen bei Homer zu kurz. Wie etwa die Sklavin Briseis, um die sich Achilles und Agamemnon streiten – was im Prinzip ihre gesamte Rolle erzählt.
Interessant ist hier ein Exkurs zur Netflixserie "Troy", in der Briseis ebenfalls auftaucht – aber diesmal mit Charaktereigenschaften. Die Serie hat den Stoff auch an anderer Stelle modernisiert: Achilles ist hier nicht mehr der Mörder ihrer Familie und ihr Vergewaltiger, den Briseis nun hofft zu heiraten, sondern die beiden sind ein gleichberechtigtes Paar.
Dass der Held Achilles ein Vergewaltiger war, ist ein gängiges Narrativ in antiken Texten. Es trifft auch auf viele andere Götter und Helden zu: Der Gott Apollo stellt der Nymphe Daphne gegen ihren Willen so sehr nach, dass die sich zum Schutz schließlich in einen Baum verwandeln lässt.
Die Vergewaltigung selbst wird allerdings in den antiken Texten selten als problematisch dargestellt, eher der damit verbundene Ehrverlust, der mit einer Hochzeit abgewendet werden kann.

Vergewaltigung in der Ehe

Wesselmann zitiert sogar eine Komödie, "Hecyra", in der das Happy End darin besteht, dass der unbekannte Vergewaltiger, der eine junge Frau geschwängert hat, sich als ihr eigener Ehemann herausstellt. Die Ehre ist also wiederhergestellt. Dass der Ehemann nun ein Vergewaltiger ist, werde im Stück an keiner Stelle thematisiert.
Das Cover zeigt die Mundpartie einer antiken Statue, über das Bild wurde teilweise eine rosa Farbfläche gelegt.
Katharina Wesselmann gelingt es, klug und unterhaltsam zugleich über das Männer- und Frauenbild der Antike zu schreiben.© Deutschlandradio/Theiss Verlag
An etlichen anderen Beispielen zeigt Wesselmann, dass sich die antiken Texte heute nicht ohne weiteres wie intendiert lesen lassen. Kritisch gelesen, könnten sie aber wichtige Diskussionen anregen, so steht etwa diese heute eindeutig nicht mehr lustige Komödie in einem Kapitel über Vergewaltigung in der Ehe – die, wie die Autorin anmerkt, in Deutschland auch erst seit Ende der 90er-Jahre unter Strafe steht.

Die Langlebigkeit der Klischees

In vielen Texten etablieren sich Klischees, die wir teilweise bis heute pflegen, oder zumindest wiedererkennen: Frauen haben keusch und schön zu sein, Männer stark. Und dürfen, sobald sie erwachsen sind, beim Sex nur noch einen aktiven Part übernehmen. Der passive Part ist Frauen und – dieser Teil immerhin hat sich mittlerweile geändert – Knaben überlassen.
Wer von der Norm abweicht, wird, damals wie heute, mitunter wüst beschimpft. Das gilt für ältere Frauen, die sexuell aktiv sind. Ebenso wie für solche in Machtpositionen – von Kleopatra bis Hillary Clinton.

Antiker Schmäh-Rap

Die Autorin schafft es, die antiken Texte in einen modernen Kontext zu bringen – und das nicht nur durch ihre vielen popkulturellen und gesellschaftlichen Bezüge, sondern auch durch ihre Sprache.
Angenehm unprätentiös und gleichzeitig ernst schreibt sie von "Toy Boys" oder "Bitches", um im nächsten Absatz Grundlagen altrömischer Dichtung zu erklären. Das macht das Buch nicht nur informativ, sondern stellenweise auch sehr lustig.
Besonderes Highlight: ein Kapitel, in dem Wesselmann antike Schmähtexte mit modernem Rap vergleicht und darin zeigt, dass Zeilen des Dichters Catull und der Gruppe K.I.Z. in Männerbild, Wortwahl und Thematik tatsächlich kaum zu unterscheiden sind.
Verständlich, dass solche Vergleiche es nie in den Lateinunterricht geschafft haben – unterhaltsamer gemacht hätten sie ihn allemal.

Katharina Wesselmann: "Die abgetrennte Zunge. Sex und Macht in der Antike neu lesen"
Theiss Verlag, Stuttgart, 2021
224 Seiten, 22 Euro

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