Kasper Colling Nielsen: "Der europäische Frühling"

Die Bausteine für die düstere Zukunft liegen schon bereit

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Im Vordergrund das Buchcover des Buchs "Europäischer Frühling", im Hintergrund ein brennendes Auto.
Kasper Colling Nielsen beschreibt ein düsteres Europa, in dem nur noch Priviligierte 'gut' leben können. © Heyne Verlag / Getty Images Europe
Von Mathias Greffrath · 15.05.2019
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Europa ist am Ende, Großstädte wie Kopenhagen sind nicht mehr bewohnbar, da dort Straßenkämpfe toben. Wer es sich leisten kann, zieht in abgeschottete Wohlstandsviertel. Kasper Colling Nielsen zeichnet in seinem neuen Roman ein finsteres Zukunftsszenario.
Europäischer Frühling, das klingt nach Aufbruch. Aber in Kaspar Colling Nielsens schwarzer Utopie geht es um das Ende der europäischen Zivilisation, wie wir sie gern gehabt und bewahrt hätten. In Kopenhagen machen Straßenkämpfe zwischen ethnischen Gruppen das Leben unerträglich. Die dänische Regierung hat in Mosambik eine Kolonie gemietet, in die anpassungsunwillige Migranten deportiert werden.

Eingezäuntes Idylle, von Drohnen bewacht

Um dem leerem Kulturbetrieb zu entkommen und eine erstarrte Ehe zu beleben, ziehen die renommierte Neurowissenschaftlerin Elisabeth und ihr Mann Stig, der einst vom Punkrocker zum Galerist avancierte, nach Lolland. Dort entsteht die Idylle einer eingezäunten und von Drohnen scharf bewachten Wohlstands-Community, eine ökologisch nachhaltige Hi-Tec-Welt mit echtem Brot, handgefertigten guten Dingen und künstlich angelegter Wildnis.
Ein IT-Milliardär finanziert das Institut, in dem Elisabeth an Mensch-Tier-Hybriden und am Projekt Unsterblichkeit arbeitet. Stig kann immer noch große Werke von Scharlatanerie unterscheiden, aber glaubt nur noch an Geld und das gute Landleben, inklusive Jagdhund und Reitpferd.
Sein lukrativster Partner – und der geistige Vater einer schockierenden Performance mit dem Titel "Europäischer Frühling" – ist der sexkranke Künstler Christian, der großartige Bilder über Vergänglichkeit malt, wenn er nicht mit seiner Muse, einem psychisch gestörten unmündigen Mädchen, im Bett liegt.

Kaputte Protagonisten in einer kaputten Welt

Weitere Hauptpersonen: Emma, die anorektische und todessüchtige Tochter von Stig und Elizabeth, die im mosambikanischen Elend gesundet, und, zeitversetzt, Stimmen aus einer weit späteren Zukunft: eine Dohle und ein Wolfshund, die dank Künstlicher Intelligenz das Sprechen gelernt haben und nun sehr solidarisch, sehr weise, sehr gebildet über Angst und Tod und Trost, das evolutionäre Erbe und das Leiden an der erworbenen Unsterblichkeit räsonieren.
Nielsen führt die Leser in einer wilden Melange aus Kolportage, Dystopie, Philosophemen, Reportage, magischem Realismus, Pornografie und Krimi in eine Zukunft, die gar nicht so fern scheint, denn alle Bausteine liegen in unserer Gegenwart bereit. Die Charaktere sind nur ein wenig amoralischer, bizarrer, hedonistischer, skrupelloser, romantischer oder furchtbesessener als unsere Nachbarn und wir - und schon changieren sie ins Monströse.
Mit seinem schlanken und flüssigen Erzählton legt Nielsen einen Hinterhalt: Unter dem leichten und schnellen Lesevergnügen und den satirischen Überspitzungen, Pornografie inklusive, injiziert er Bilder und Gedanken, die im Nachgang das Zeug zu einer eine länger anhalten untergründigen Verstörung haben.
Die real existierende Vorsitzende der dänischen Sozialdemokratie hat diese Idee der Deportation von Migranten nach Mosambik übrigens umgehend mit Applaus ins Parteiprogramm genommen – soviel zum Wirkungsgrad poetischer Dystopien.

Kaspar Colling Nielsen, Der europäische Frühling
Aus dem Dänischen von Günther Frauenlob
Heyne Verlag, 396 Seiten, 22 Euro

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