Karteileichen aus der Zeit des Grande Terreur

05.07.2011
Ein einzelner Karton in einem Pariser Archiv. Darin Akten über exakt 404 Menschen, die zwischen April 1795 und September 1801 gewaltsam zu Tode kamen, zwei Drittel davon durch Ertrinken in der Seine. Für alle in der Seine anfallenden Leichen war seinerzeit der Bezirk zuständig, in dem auch der Vorläufer der Morgue lag, die Basse-Geôle. Im Leichenkeller dieses Gefängnisses saßen viele der "gefressenen Revolutionskinder", bevor sie unter die Guillotine kamen.
1795 herrschte La Grande Terreur, die Zeit der ganz kurzen Prozesse der Französischen Revolution. Deren Richter haben auf das Begründen ihrer Todesurteile kaum soviel Zeit und Mühe verwandt wie der Friedensrichter der Basse-Geôle auf das Ermitteln von Fakten über schon Tote. Daude und Bouille hießen die beiden Concierges, denen die gesamte Arbeit oblag, zwei Top-Experten des "Leichenlesens", zwei pingelige Schreiber, die alles notieren: Haut- und Haarfarben, Narben und Muttermale, Kleidung samt Stoffsorten, Flicken und Nähten, Habseligkeiten wie das kleine Stück Seife der citoyenne Harmand, 14 Jahre. Sie schrecken auch vor Gedankenprosa nicht zurück, schreiben auf, was den oder die Tote wohl motiviert haben könnte, durchaus mitfühlend. Ebenso lebendig sind die Vernehmungsprotokolle der ermittelten Angehörigen.

Kurz, jener Karton "D4 Ul 7" ist eine Schatzkiste. Aber es brauchte jemanden, der den Schatz erkennt: "Man glaubt fast, den Verstorbenen bei ihren alltäglichen Verrichtungen und Besorgungen zuzusehen. Es braucht nur ein klein wenig Phantasie, und schon ersteht vor uns die kleine, intime, persönliche Geographie der Straßen, manchmal ganzer Viertel."

Der 1996 verstorbene britische Sozialhistoriker Richard Cobb hat diesen Schatz geborgen. "Tod in Paris" ist das erste seiner vielen Bücher über Frankreich und die Französische Revolution, das überhaupt auf Deutsch erscheint, nach 38 Jahren. Cobb ist ein weltweit renommierter Historiker, und er ist ein grandioser Erzähler. Ihn zu lesen ist eine Freude. Seine Prosa fließt klar und elegant, oft spitzzüngig und ganz unpathetisch, aber eben darum Empathie hervorrufend, der Geist dahinter ist anarchisch im Wortsinn: antihierarchisch.

Cobbs Blick gilt den kleinen und noch kleineren Leuten, ihren Lebens- und Alltagsfäden. Die spinnt er weiter, verknüpft sie mit anderen, verleimt sie mit größeren Kontexten und erzeugt am Ende ein feines kunstvolles Gewebe, in dem eine ganze historische Szenerie sinnlich greifbar wird. Das eigentliche Kunstwerk aber ist eine Hommage an den Ur-Geist jener Revolution, die Aufklärung. Anders gesagt: Cobb hat aus scheinbar unbedeutenden Karteileichen die Menschenwürde herauspräpariert.

Der amerikanische Historiker Robert Darnton empfiehlt, Cobb wie Gogol zu lesen, als Suche nach toten Seelen. Vor allem sollte man ihn endlich auf Deutsch lesen dürfen - so sorgfältig ediert, so schön layoutet und so wunderbar übersetzt wie hier. Denn auch Cobbs eigene Werke sind ein zu hebender Schatz.

Besprochen von Pieke Biermann

Richard Cobb: Tod in Paris. Die Leichen in der Seine 1795-1801
Mit einem Vorwort von Patrick Bahners
übersetzt von Gabriele Gockel und Thomas Wollermann
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2011
201 Seiten, gebunden, 19,95 Euro