Aus den Feuilletons

Warum Toleranz wandelbar ist

Lesben und Schwule des LSVD protestieren vor der Bundesgeschäftsstelle der CDU gegen deren Kampagne zur Verhinderung der Gleichstellung von lesbischen und schwulen Paaren (August 2000).
Eine Protestaktion für die Gleichstellung von schwulen Paaren vor der Bundesgeschäftsstelle der CDU im August 2000. © imago/Rolf Zöllner
Von Paul Stänner · 08.08.2016
Früher hätten wir Rauchen und Kinderschlagen klaglos hingenommen und gleichzeitig Homosexualität offen abgelehnt, schreibt der Schweizer Philosoph Andreas Urs Sommer in der "NZZ". Daraus folgert er: Toleranz verändert sich fortlaufend.
"Ist Toleranz ein Wert?", fragt in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG der Schweizer Philosoph Andreas Urs Sommer. Klar!, denkt der politische Jedermann, ohne Toleranz keine menschliche Gesellschaft, Toleranz ist ein Wert. So einfach ist es nicht, sagt Philosoph Sommer. Denn die Toleranzanforderung hat sich gewandelt.
Früher hatte sie es einfach – da musste sie der Meinung eines anderen tolerant gegenüber stehen. Es war ja nur eine Meinung. Heute gilt die Toleranzanforderung der Person – ein Homosexueller kann nicht einfach seine Homosexualität ändern, ein Farbiger nicht seine Haut. Für Sommer folgt daraus:
"Wer Toleranz übt, hat vielfach nicht die Wahl, intolerant zu sein. Häufig genug scheint Toleranz alternativlos. Wie kann sie dann ein Wert sein?"

"Toleranz hat keinen festen Kern"

Dann wendet sich Sommer der Toleranz zu, die durchaus Alternativen zulassen kann. Ob Menschenfresserei erstrebenswert sei, kann man so sehen oder so - und hier entscheidet sich der Wert der Toleranz. Denn sie ist wandelbar, schreibt Sommer:
"Vor 30 oder 40 Jahren hätten wir das Rauchen oder Kinderschlagen noch klaglos hingenommen und wären dafür offen schwul lebenden Männern gegenüber höchst ablehnend gewesen. Faktisch nimmt Toleranz immer wieder andere Gestalt an und hat keinen festen Kern."
Woraus folgt, dass jedermann seine Toleranzspanne immer wieder neu definieren muss. Philosoph Sommer appelliert an unseren Sportsgeist:
"Weil Menschen bewegliche Wesen sind, müssen auch ihre Werte beweglich bleiben."

Bundesrepublik in der Verantwortung?

Um Unbewegliches geht es in der SÜDDEUTSCHEN. In Los Angeles, so berichtet Peter Richter, wird das Haus, das sich der notorische Villenbewohner Thomas Mann hatte bauen lassen, verkauft. Knapp 500 Quadratmeter für knapp 15 Millionen Dollar. Peter Richter beschwört den genius loci:
"Es geht immerhin um den Ort, an dem 'Doktor Faustus', 'Lotte in Weimar', der letzte Teil von 'Joseph und seinen Brüdern' und manche Teile der 'Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull' entstanden sind; es geht auch um ein wichtiges Werk des Berliner Architekten Julius Ralph Davidson, und es geht um den einzigen erhaltenen Ort, an dem sich die deutschsprachige Exil-Literatur mit der deutschsprachigen Exil-Architektur der Moderne eingelassen hat."
Richters Subtext insinuiert, dass Architekt und Bewohner es wert wären, dass man um ihretwillen das Haus erhalte – aber neben der Feuchtwanger-Villa wird die Bundesrepublik sich wohl nicht mit einem weiteren Literatenhaus belasten wollen.
Dafür, merkt Richter süffisant an – lässt sie lieber ein teures Haus am Central Park leer stehen.
Außenansicht des ehemaligen Wohnhauses des Schriftstellers Thomas Mann in Los Angeles, aufgenommen in den 1980er-Jahren
Das ehemalige Wohnhaus des Schriftstellers Thomas Mann in Los Angeles© imago / PEMAX

Grund zu Pessimismus

Leer stehen werden bald auch die Redaktionsräume vieler türkischer Zeitungen. Im "Türkischen Tagebuch" der SZ schildert Yavuz Baydar, der sich klugerweise nicht in seiner Heimat aufhält, wie vielen Zeitungskollegen ohne Begründung die Pässe entzogen werden.
Zudem versuche die AKP, die Legislative auszuhebeln, indem sie dem Parlament eine extrem lange Sommerpause verordnen wolle, obwohl die Verfassung vorschreibt, dass Notstanddekrete nach 30 Tagen im Parlament behandelt werden müssen.
Baydar befürchtet: "Angesichts der autoritären Sprüche der AKP-Redner und der Aussicht, die Legislative könne über Wochen gelähmt sein, gibt es hinsichtlich der Ereignisse in der Türkei weiterhin allen Grund zu tiefem Pessimismus."

"Noch nie haben so viele Menschen klassische Musik gehört"

Neuere Rundfunkphilosophien fordern, dass ein Beitrag immer positiv zu enden habe, damit die Hörerin, der Hörer nicht verschreckt in den Alltag entlassen werde. Hier also Ihre gute Nachricht: Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG meldet, dass die Zahl der Orchestergäste zwischen 2005 und 2013 von 3,9 auf knapp 5,2 Millionen gestiegen sei. Und weil wir deshalb so schön als Kulturnation dastehen, soll Brachmann auch das letzte, fast triumphale Wort haben, nämlich:
"Noch nie haben so viele Menschen klassische Musik gehört wie heute, und noch nie war ihr Anteil der deutschen Gesamtbevölkerung so hoch wie jetzt."
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