Karl Marx und die Krise

Warum der Kapitalismus an seinen Krisen nicht zerbricht

Karl Marx mit Gießkanne: Ein Graffiti auf dem Gelände der Universidad Nacional in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá.
Graffiti mit Gießkanne: Marx habe als erster die Dynamik das Kapitalismus verstanden, so Ulrike Herrmann. © Deutschlandradio / Johannes Kulms
Von Ulrike Herrmann · 04.05.2018
Crashs und Weltwirtschaftskrisen: Dem kapitalistischen System scheinen sie nichts anhaben zu können. Dass die Krise das Wesen des Kapitalismus ist, habe schon Karl Marx klar gesehen, meint die Journalistin Ulrike Herrmann – zumindest gegen Ende seines Lebens.
Kaum bricht heutzutage eine Finanz- oder Wirtschaftskrise aus, ist Karl Marx wieder aktuell. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es scheint. Denn am Ende seines Lebens glaubte Marx nicht mehr, dass der Kapitalismus an seinen Krisen zugrunde gehen würde. Marx war sich der Dialektik bewusst, dass der Kapitalismus eine Ordnung ist, die durch Chaos entsteht. Dies war die leidvolle Erfahrung seines eigenen Lebens. Zu oft hatte er sich geirrt und auf den Zusammenbruch gesetzt.

Krisen-Euphorie bei Engels und Marx

Die Weltwirtschaftskrise von 1857 hatte er noch euphorisch begrüßt, die allein in den USA mehr als 5000 Unternehmen und Kreditinstitute in den Untergang riss. Auch Friedrich Engels war begeistert, obwohl seine eigene Fabrik in Manchester betroffen war. Fast täglich schrieb er an Marx in London und berichtete freudig-fasziniert vom Wahnsinn, der sich weltweit auf den Kreditmärkten abspielte.
Am 7. Dezember 1857 jubilierte Engels beispielsweise: "In Hamburg sieht es großartig aus. Ullberg und Cramer, ... die mit Schulden von Bank Mk. 12 000 000 falliert sind ... hatten ein Kapital von nicht mehr als 300 000 Mark!! ... So komplett und klassisch ist noch nie eine Panik gewesen wie jetzt in Hamburg. Alles ist wertlos, absolut wertlos, außer Silber und Gold."
Engels' Beschreibung erinnert verblüffend genau an die Lehman-Pleite vor fast zehn Jahren. Die New Yorker Investmentbank hatte ebenfalls viel zu wenig Eigenkapital – und ihr Konkurs löste ebenfalls eine weltweite Panik aus. Am Ende schienen alle Wertpapiere wertlos, während der Goldpreis in die Höhe schoss.
Doch so präzise Engels die Finanzkrise 1857 eingefangen hatte: Schon bald mussten er und Marx erleben, dass der Kapitalismus keineswegs am Ende war. Zwei Jahre später wuchs die Wirtschaft wieder.

Das Paradox des Kapitalismus

Diese Enttäuschung hat Marx nie vergessen. 1873 kam es erneut zu einer Weltwirtschaftskrise, die zu den schwersten Crashs in der Geschichte gehört. Allein in Deutschland wurde die Hälfte des Aktienvermögens vernichtet, die Löhne halbierten sich, und die Preise sanken um 38 Prozent. Doch während wieder Panik um sich griff, blieb Marx ganz ruhig: Er hatte den Glauben aufgegeben, dass der Kapitalismus durch seine Krisen kollabiert.
Marx war damals klar, dass die Krisen nicht das Ende des Kapitalismus sind – sondern sein Wesen. Für diese Akzentverschiebung musste er seine Theorie nicht umbauen – sie war im "Kommunistischen Manifest" von 1848 bereits angelegt.
Dieser kleine Text begeistert bis heute, weil er nichts von seiner Frische verloren hat. Er ist prägnant, elegant, sarkastisch und witzig. Die kurzen, apodiktischen Sätze sind von geradezu biblischer Sprachgewalt, und noch immer wirkt der Text prophetisch, weil er düster-dramatisch eine kapitalistische Zukunft skizziert, die auch im 21. Jahrhundert nicht fremd wirkt.
Man könnte sagen: Marx hat die Krisen-Sprache erfunden. Doch war er nicht nur stilistisch innovativ – er hat auch als Erster verstanden, dass der Kapitalismus dynamisch ist und sich mit statischen Kategorien nicht fassen lässt.

Ein Wirtschaftssystem der Unsicherheit

Kapitalismus ist Unsicherheit, wie das Manifest explizit ausführt: "Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlicher Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus ... Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht."
Zudem zeigte sich im Kapitalismus ein irritierendes Paradox: Ausgerechnet der Überfluss wurde zum Problem. Noch einmal Marx: "In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als Widersinn erschienen wäre – eine Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einem Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt ... die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Handel besitzt."
Damit hat Marx jene Frage gestellt, die uns auch heute beschäftigt, wenn eine Krise ausbricht: Wie kann es sein, dass Reichtum Armut schafft?

Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der Tageszeitung "taz", ausgebildete Bankkauffrau, Historikerin und Autorin zahlreicher Sachbücher, zuletzt "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Westend Verlag, Frankfurt am Main 2016).

Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der Tageszeitung "taz"
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