Karl Heinz Bohrer: "Was alles so vorkommt"

Erbe der radikalen Aufklärung

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Buchcover "Was alles so vorkommt" von Karl Heinz Bohrer
Auf der Suche nach dem Bruch im scheinbar Selbstverständlichen und Richtigen: Karl Heinz Bohrers "Was alles so vorkommt". © Deutschlandradio / Suhrkamp Verlag
Von Eike Gebhardt · 13.09.2021
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Der letzten Monat verstorbene Karl Heinz Bohrer war eine prägende Figur in der intellektuellen Landschaft der letzten Jahrzehnte. Der nun posthum erscheinende neueste Aufsatzband zeigt ihn nochmals in ganzer Stärke.
Karl Heinz Bohrer muss man niemandem vorstellen: Der jüngst Verstorbene war eine Institution des deutschen Kulturdiskurses und zugleich dessen Gegenteil: Ein unaufhörlich irritierender Widerspruchsgeist, ein urbaner Kosmopolit mit tiefem Hass auf Provinzialismus, der zu einem geradezu enzyklopädischen Themenspektrum durchweg Kluges und meist Überraschendes beizutragen hatte und kampfeslustig so manchen verdrängten oder verschwiegenen Aspekt benannte.

Der Leitbegriff der "Plötzlichkeit"

Seine stupende Bildung spiegelt auch dieser nachgelassene Essayband. Sie beschränkt sich keineswegs auf intellektuelle Belange, vielmehr offenbaren seine meist scharfsinnigen Anmerkungen zu Alltagsphänomenen einen umfassend anthropologischen Kulturbegriff.
Um Tod und Narzissmus geht es hier und natürlich Literatur, aber auch um Fußball, Freundschaft oder schwüle Träume eines Heranwachsenden. Immer und überall ist der Autor auf der Suche nach dem plötzlichen Erkenntnisblitz, dem Bruch im scheinbar Selbstverständlichen und Richtigen, so als ginge es ihm gar nicht um richtig oder falsch, sondern um die unaufhörliche Erweiterung des Deutungsspektrums, des Möglichkeitsraums, um den "Thrill" der Entdeckerfreude. "Plötzlichkeit" war einer seiner Lieblings-, ja Leitbegriffe – ihm widmete er schon früh ein ganzes Buch.

Aufklärung und Frühromantik

In dieser Hinsicht zumindest war Bohrer ein Erbe radikaler Aufklärung (und der ihr verpflichteten Frühromantik, eine häufige Referenz für ihn). Ihn interessierte nicht so sehr zweckrationales Verhalten, sondern die Sensibilitäten und Befindlichkeiten, Stimmungen und Stimmungsbrüche, überhaupt die Bruchstellen des Erwartbaren als Erkenntnisräume.
Freundschaft z.B. sei, so schreibt er etwa im vorliegenden Band, partout kein zeitloses Ideal, die in allen Lebensphasen dasselbe bedeute und erwarten lasse. In der Jugend "wirken gemeinsame Entdeckungsreisen durch moralische oder literarisch-künstlerische Themen identifikatorisch," im professionellen Alter hingegen werde hingegen wohl "aufkommende Sympathie gebremst durch Konkurrenz."
Auch kulturelle Unterschiede spielen eine Rolle: In den USA findet der Autor eher, wonach er – bei aller Coolness der Selbstdarstellung – sich wohl sehnte: eine "Art intensiver Seelenverwandtschaft, eine umarmende Kameradschaft, eine Selbstverständlichkeit, Wichtiges gemeinsam zu erkennen."
Darum fühle man sich bei solchen Freunden "zu Hause" in einer "Art zweckloser 'Seelen'-Freundschaft". Und weiter: "Man gebraucht das Wort "Seele" inzwischen selten. Es sei daher um so eindringlicher hier genannt!" Begriffliche Moden und Tabus ließen ihn kalt.

Unerwartete Brückenschläge

Fast komplementär wirkt da sein Plädoyer fürs kontemplative Alleinsein. Geschickt verbindet er es mit einer Kritik am sonst hochgeschätzten Habermas und dessen Theorie kommunikativen Handelns: Sie unterschlage "die apriori gefühlsgeleiteten Affinitäten der im argumentativen Austausch Aufeinanderstoßenden, wie sie im Zustand des Alleinseins längst ausgebildet worden sind. In der 'Kommunikation' des wissenschaftlichen Denkens liegt die entscheidende und erkennbarste Abwesenheit des kontemplativen Zustands."
Und plötzlich – typischer Bohrer-Brückenschlag – taucht diese Denkfigur wieder auf beim Westernheld: immer unverheiratet, auch er bezieht Status und Identität, ja seine Handlungsfähigkeit aus dem Alleinsein, wie der Dandy und der Existenzialist (noch so ein überraschender, "plötzlicher" Brückenschlag). Solche "Selbstdenker", Feinde "abrufbarer Ideen" und "absehbarer Kenntnisse" (also aller Gemeinplätze), denen er ebenfalls ein Buch widmete, beflügelt eben der Trotz und Widerspruch gegen den "Gemeinsinn".
Ideal und Alltag müssen auseinanderklaffen; Begriff und Name dieses Ein- und Widerspruchs ist "Ästhetik", die sich daher nicht instrumentalisieren lässt.

Der Trieb zur Schönheit

"Was mich seit jeher getrieben hat war die Frustration über den Mangel an Schönheit und den Mangel an Erotik" im intellektuellen Leben, wobei Schönheit und Erotik für ihn dasselbe sei, bekennt er. Wie immer man dazu stehen mag, aus Bohrer-Texten taucht man nie gleichgültig oder schulterzuckend auf. Auf seinen gewundenen Entdeckungswegen ihm zu folgen, ist selbst jedes Mal ein Abenteuer.
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