Zum Tod von Karl Heinz Bohrer

Den Rechten ein Ärgernis, den Linken ein Juckpulver

08:16 Minuten
Der 84-jährige Autor Karl-Heinz Bohrer blickt in die Kamera. Er trägt ein braunes Cordsakko und im Hintergrund ist eine Buchstaben-Dekoration der Leipziger Buchmesse zu sehen.
Karl Heinz Bohrer (1932–2021) war ein scharfsinniger, oft bissiger Kommentator in ästhetischen und politischen Debatten. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
05.08.2021
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Der Publizist Karl Heinz Bohrer ist im Alter von 88 Jahren in London gestorben. Als Journalist und Autor zahlreicher Bücher war er eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen in Deutschland, wobei er stets auch von außen auf das Land schaute.
Der Literaturwissenschaftler, Essayist und Journalist Karl Heinz Bohrer ist tot. Er starb am Mittwoch in seinem Wohnort London im Alter von 88 Jahren, wie der Suhrkamp Verlag mitteilt.
"Er war einer, der einfach immer irgendwie dagegen war", sagt FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube, "auch gegen das, was man heute 'political correctness' nennt. Er war einer der frühen Kämpfer gegen die Anpassung des Denkens an moralische Gesichtspunkte und in jeder Sekunde auf Angriff gestellt."

Die Provinzialität der Bundesrepublik

Bekannt wurde Bohrer vor allem als Herausgeber und Autor der Kulturzeitschrift "Merkur" zwischen 1984 und 2011. Sein Text "Die Ästhetik des Staates" war 1984 Auftakt einer Reihe scharfer Glossen über die Bundesrepublik unter dem Kanzler Helmut Kohl.
Für Bohrer herrschten in dieser Zeit Provinzialität und Konformismus in einem Land "ohne Ästhetik".
Am Ende der Reihe erträumt Bohrer auch ein "Wörterbuch des Gutmenschen", in dem er die Vokabel "Querdenker" als zu weich beklagt, erzählt Literaturredakteur René Aguigah [AUDIO] : "Über die Querdenkerbewegung heute könnte man mit Bohrer im Hinterkopf sagen, dass das unehrliche Weiche von damals heute umso härter zu sehen ist."
Die Kindheit Bohrers, der 1932 in Köln geboren wurde, war geprägt vom Zweiten Weltkrieg. In seiner an der eigenen Biografie angelehnten Erzählung "Granatsplitter" beschrieb er dies 2012 als – nach seinen Worten [AUDIO] – "Fantasie einer Jugend". Nach dem Studium in Köln und Göttingen schrieb er in Heidelberg eine Doktorarbeit über frühromantische Geschichtsphilosophie.
Jürgen Kaube nennt Bohrer in seinem Nachruf in der FAZ einen "König im literarischen Reich der Unmittelbarkeit". Außer in der Kunst habe Bohrer das Leben nur noch punktuell überrascht, so erklärt Kaube. Ihm sei es deshalb um die Frage gegangen, wie kann man das bürgerliche Leben, das wir alle führen, durcheinanderbringen?

Der Antipode von Reich-Ranicki

Über Kulturreportagen und literarische Essays kam Bohrer zunächst in die Feuilletonredaktion der "Welt", bevor er 1966 zur "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ging. Dort leitete er von 1968 an das Literaturressort, musste den Posten aber fünf Jahre später für Marcel Reich-Ranicki räumen.
Karl Heinz Bohrer ging stattdessen 1975 als Kulturkorrespondent der FAZ nach London, bevor er 1982 eine Professur für Neuere Deutsche Literaturgeschichte in Bielefeld übernahm. "Eine spezielle Konstellation, dass jemand, der sich als Überrascher empfindet, Professor wird", sagt Kaube. "Seine Tendenz war zu sagen: 'Seht: die Zumutung der Literatur'." Literatur nicht nur als "Freizeitvergnügen", sondern als "Anspruch an die Fantasie ihrer Leser". Kaube findet das bewundernswert.
Karl Heinz Bohrers letzte akademische Station war seit 2003 die Stanford University in Kalifornien.

"Den Rechten ein Ärgernis, den Linken ein Juckpulver"

1973 agierte die Studentenbewegung nicht mehr auf der Straße, sondern begann, in Universitäten feste Stellen zu erobern und die Curricula nach ihrem Gusto zu gestalten.
Schöngeistige Literatur erhielt den Auftrag politischer Nützlichkeit für die breite Masse, und der Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" äußerte sich dazu so:
"Es ist eine Illusion, zu glauben, man könnte eine nicht genau beschreibbare, amorphe Vielheit mit Literatur beliefern! Man kann zwar Eisschränke und Seifen und gute Schulen für die Mehrheit fordern. Aber Literatur ist nicht etwas, was sozial einforderbar ist, sondern Literatur, das muss erarbeitet werden und kann nur in einer sehr indirekten Weise breiten Massen vermittelt werden."
Literaturchef der FAZ war 1973 Karl Heinz Bohrer. Doch nur wenige Wochen nach diesen Sätzen war er es nicht mehr, weil er genau das, was er im Interview sagte, zu offensichtlich praktiziert hatte: eine Literaturkritik, die sich um Aspekte der Massenkompatibilität mitnichten scherte.
Ideologisch allerdings hatte Bohrers Kritik an den Verlagsstrategien jener Jahre durchaus den Segen der FAZ-Redaktion: "Ich würde kritisch vermerken, bei den bedeutenden liberalen Verlagen, dass zum Beispiel eine konservative, interessante – wenn Sie wollen sogar anti-aufklärerische oder skeptizistische Literatur – jedenfalls als Reihenprodukt eine ganze geringe Chance hat, und dafür ein Sozio-Konformismus aufkommt, dem beliebige Seminararbeiten aus linken soziologischen Seminaren willkommener sind."

Katholisch, konservativ, mit Stallgeruch

Wer war dieser Karl Heinz Bohrer? Als dezidiert konservativer Intellektueller hat er die erstaunliche Lebensleistung vollbracht, jahrzehntelang den linksliberalen Diskurs der Bundesrepublik mitzubestimmen, ja diesem sogar Themen aufzuzwingen. Geboren 1932 als Sohn eines promovierten Kölner Volkswirtschaftlers, wuchs er im katholischen Bürgertum auf – wobei seine Mutter eine lebenslustige Kaufhausverkäuferin gewesen war, von der sich der Vater schnell wieder scheiden ließ. Die Erfahrung, einem Milieu nicht mit Haut und Haaren, sondern eher am Rande stehend anzugehören, prägte ihn früh.
Als Schüler besuchte er den reformpädagogischen Birklehof im Schwarzwald, einen Ableger von Schloss Salem, und dies stellte für sein Leben entscheidende Weichen. In der Autobiografie "Jetzt" von 2017 berichtet er über sein Einstellungsgespräch beim Frankfurter Leitmedium:
"Dass der Name des Internats, in dem ich zur Schule gegangen war und Abitur gemacht hatte, für meine Einstellung wesentlich wichtiger gewesen war als meine beiden Universitäten Göttingen und Heidelberg, daran hatte ich keine Zweifel."
Was für die FAZ galt, hatte schon zuvor bei der Springer'schen "Welt" gegolten, bei der Bohrer nach Germanistikstudium und Promotion seinen ersten Redakteursjob angenommen hatte: Der richtige Stallgeruch beförderte den Aufstieg. Nach vier Jahren war damit allerdings Schluss gewesen, weil Bohrer in einem Artikel Burschenschaften verspottet hatte.
Und auch die Literaturkritik-Episode bei der FAZ währte nur fünf Jahre. Bohrer ging als Kulturkorrespondent jener Zeitung nach London, habilitierte sich nebenbei und erhielt 1982 einen Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturgeschichte in Bielefeld.

Ekel vor der Provinz

Bielefeld – ausgerechnet: linke Reformuniversität und zugleich tiefste deutsche Provinz. "Die triumphierende grüne Epoche, in Bielefeld überhaupt … man darf nicht vergessen, Bielefeld war sowieso ein Hauptquartier der Grünen, und meine eigene Universität war nun geprägt durch linke, grüne pädagogische Professoren, die mir alle unendlich lächerlich vorkamen! Und diese beiden Aspekte, die grüne, linke Nachbarschaft und die Kuchengesichter von Düsseldorf, das kam zusammen, dass ich mir vorstellte: ‚Du schreibst so 'ne Art von komischer Parabel, über wie sich diese Leute die Zukunft vorstellen.‘"
In diesem Interview von 2012 kann man immer noch den durchschlagenden Ekel vor den damaligen Bielefelder Verhältnissen vernehmen. Ein Ekel, der sich immer wieder in fulminanten Essays niederschlug wie dem über deutschen Provinzialismus, den Bohrer in Bielefeld wie im reichen Düsseldorf beobachtet hatte – nur eben in unterschiedlichen Ausformungen.
Obwohl er 15 Jahre lang in Bielefeld lehrte, ist er nie dorthin gezogen, verkörperte das ostwestfälische Oberzentrum doch exakt das, was er an Deutschland hasste: "Es gibt eine Misere in Deutschland, die kann man nicht abwählen. Und es gibt ein Unvermögen, das kann kein Bruttosozialprodukt ausgleichen. Dieses Unvermögen ist die Unfähigkeit zu Stilbewusstsein."

Ein Tiger des Zorns

Bohrers Orte waren London und Paris, und sein geistiges Zentrum war nicht die deutsche Gremienuniversität, sondern die Kulturzeitschrift "Merkur", die er von 1984 bis 2011 herausgab. Ein Bollwerk des von Moden unabhängigen Geistes, ganz auf ein Motto des von Bohrer verehrten William Blake gestellt: "Die Tiger des Zornes sind weiser als die Rosse der Belehrung."
Als "Tiger des Zorns" war Bohrer immer für eine Aufregung gut. Schon als FAZ-Korrespondent hatte er 1982 während des Falklandkrieges einen Text abgeliefert, der ihm unter deutschen Intellektuellen – und beileibe nicht nur den linken – den Ruf eines heillosen Reaktionärs eintrug:
"Die Überschrift dieses Aufsatzes hieß 'Falkland oder die Mainzelmännchen'. Und die Reaktion der Deutschen auf Falkland beschrieb ich quasi als so eine Art sich-in-die-Büsche-schlagendes, kicherndes Getue, was keinen Sinn hat für politische und militärische Situationen und sich darin quasi pazifistisch wohlfühlt."
Der militärisch robuste Pragmatismus der Briten, den Bohrer bewunderte und den er nicht mal während der Brexit-Phase scheitern sah, ließ den pazifistischen deutschen Hypermoralismus in seinen Augen bleich, ja krank aussehen: Selbst wenn die Welt unterginge, wäre die reine Unschuld zu bewahren – gegen solchen Idealismus polterte er zeitlebens an. Seine Losung dabei: "Den Rechten ein Ärgernis, den Linken ein Juckpulver".
Auf die Juckpulverproduktion verwendete er allerdings deutlich mehr Energie. Dass der von ihm im "Merkur" erfundene satirische Begriff des "Gutmenschen" eine zweifelhafte Karriere als Kampfbegriff rechtsaußen machte, hat Bohrer nie Gewissensbisse bereitet.

Lustvoller "Erwartungsschrecken"

Im Alter wurde er sogar noch unbeirrbarer, wie seine Autobiografie belegt: "In meinem Denken hatte sich mittlerweile etwas verändert: Ich hatte keine Sorge mehr, missverstanden zu werden. Weder wissenschaftlich noch politisch. Das Wort 'missverstehen' war letztlich ein Pfötchenwort, ein Wort ähnlich wie 'Streitkultur'. Man wurde nicht missverstanden. (...) Meine Abweichung vom linken, oder sagen wir besser: konformen Mainstream wurde ganz richtig verstanden."
Auch wissenschaftlich war Karl Heinz Bohrer Außenseiter geblieben. Als der Realismus die Debatte bestimmte, habilitierte er sich – allein dies ein Skandalon! – über Ernst Jünger. Als Strukturalisten das Ruder übernahmen, blieb er dem Surrealismus und der Romantik verhaftet.
Sein Lebensthema – er selbst hielt es für eine wesentliche literaturhistorische Entdeckung – war der Begriff der "Plötzlichkeit", worin sich ein "Erwartungsschrecken" offenbare, der das langweilige Leben erst erträglich mache. Bis ins hohe Alter hinein blieb dies ein bestimmendes Motiv, verkörperte es doch den eigenen Unwillen, sich mit starren Gegebenheiten abzufinden. Wenn jemand die Verhältnisse zum Tanzen brachte, fand Bohrer das per se gut.
Berührungsängste kannte er darum so gut wie keine, Ulrike Meinhof gehörte zu seinem Bekanntenkreis wie Andreas Baader, dessen Terror-Aktivismus ihm imponierte: "Seine Gefangennahme und die der anderen machten die Bundesrepublik um etwas ärmer, das man nur schlecht definieren konnte."
Dann doch kein Reaktionär, sondern ein Radikaler? In Wahrheit stand Karl Heinz Bohrer als Intellektueller Politik und Moral gleichermaßen fern und nahm stattdessen "ästhetische Fragen existenziell ernst", wie ihm die FAZ bescheinigte. Schon von daher lagen ihm großbürgerlich-elitäre Attitüden immer näher als geistig enge Debattierzirkel, welchen Moden sie auch gerade folgen mochten.

Aus England brachte er Fußballbegeisterung mit

Eher überraschend – aber wiederum passend zu seiner Anglophilie – war Bohrers Liebe zum Fußball. Über Erlebnisse in den englischen Stadien der 1960er-Jahre konnte er noch im hohen Alter begeistert reden: "Das war eine Zelebrierung des Stolzes der englischen Arbeiterklasse und ihres eigentlichen Sportes! Und was sie damals erfunden haben, an Ritualen, das mit den Schalen sich langsam Hin- und Herbiegen.
Dann diese berühmten Gesänge 'We never walk alone', was ursprünglich aus dem englischen Bürgerkrieg kam. Die Soldaten von Cromwell sangen das Lied 'We will never walk alone', wir werden immer unter Gottes Schutz kämpfen. Das ist formuliert und umgesetzt worden von diesen Jungens da aus Liverpool … in diesem Fall übrigens Manchester, ist die eigentliche Manchester-Hymne, die dann übernommen worden ist."
Und so bleibt für diejenigen, die dem germanistischen Metier ganz ferne stehen, von Karl Heinz Bohrer immerhin ein populärer Satz übrig: "Günter Netzer kam aus der Tiefe des Raumes." Den hat er geprägt – kein Fußballreporter.
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