Karin Smirnoff: "Mein Bruder"

Rückkehr in die traumatische Kindheit

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Buchcover zu "Mein Bruder" von Karin Smirnoff
Karin Smirnoff verwendet für ihren Roman "Mein Bruder" eine karge, aber fesselnde Sprache. © Deutschlandradio / Hanser Berlin
Von Anne Kohlick · 25.05.2021
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Eine Frau kehrt auf den elterlichen Hof in Nordschweden zurück, wo sie eine traumatische Kindheit verbracht hat. Sie will ihren Zwillingsbruder vor seiner Alkoholsucht retten. "Mein Bruder" ist ein packender Roman, der existenzielle Fragen aufwirft.
Fotografin, Karatelehrerin, Journalistin, Altenpflegerin: Die Schwedin Karin Smirnoff hat in vielen Berufen gearbeitet, bevor sie zur Bestseller-Autorin wurde. Der Debütroman der Mitte-Fünfzigjährigen wurde 2018 auf Anhieb zum Erfolg – und vom schwedischen Buchhandel zum besten Roman des Jahres gekürt. "Jag for ner till bror" ist inzwischen als "Mein Bruder" auf Deutsch erschienen. Das Buch ist der Auftakt einer Trilogie um Ich-Erzählerin Jana Kippo, die in Schweden – nach einer halben Million verkauften Büchern – bald zur TV-Serie werden soll.
Am Anfang von Band eins stapft Jana Kippo durch tiefen Schnee. Sie ist auf dem Weg zu ihrem Zwillingsbruder, der auf dem Gehöft ihrer Eltern in der nördlichen Provinz Västerbotten lebt. Schon auf der ersten Seite von "Mein Bruder" spürt man, dass diese Heimkehr für die Mittedreißigjährige alles andere als einfach wird. Doch wenn Jana ihren alkoholabhängigen Zwilling davor retten will, sich zu Tode zu trinken, muss sie bei ihm sein – an diesem Ort, an dem beide als Kinder Schreckliches erlebt haben.

Sätze wie Faustschläge

Es sind kurze, knappe Sätze – direkt und hart wie Faustschläge – in denen die Autorin in Flashbacks von der Kindheit der Kippo-Zwillinge erzählt: von Vattern, der die Tiere auf dem Hof quält, die Tochter missbraucht, den Sohn verprügelt. Und von Muttern, die allem tatenlos zusieht, ihr blau geschlagenes Gesicht unter Kopftüchern versteckt und Zuflucht in Bibelsprüchen findet, die sie auf hunderte Zierdeckchen stickt. Die erwachsene Jana Kippo erzählt davon mit abgründigem Humor – genauso wie von ihrer Gegenwart, in der sie einen Job als Altenpflegerin im Dorf annimmt und dabei auf Familiengeheimnisse stößt.
Was beim Lesen auf den ersten Seiten des Romans irritiert: Außer dem Punkt gibt es keine Satzzeichen. Kommata fehlen, genauso wie Fragezeichen oder Anführungszeichen. Was im Buch gesagt wird – und was nur gedacht oder beobachtet, muss man beim Lesen selbst herausfinden. Vor- und Nachnamen sind zusammengeschrieben, um dem schwedischen Original möglichst nahezukommen, für das Karin Smirnoff die "Jana Kippo"-Sprache erschaffen hat.

Herausforderung für die Übersetzerin

In Anlehnung an den Dialekt ihrer Heimat Västerbotten verwendet die Autorin Wörter, die mitunter schon Leserinnen und Leser aus anderen schwedischen Provinzen nicht verstehen. Eine Herausforderung für die Übersetzerin Ursel Allenstein, der mit "Mein Bruder" eine überzeugende deutsche Version gelungen ist für diesen packenden Roman. Der karge Stil passt zur rauen Landschaft, in der sich Jana Kippo zu Hause fühlt – zwischen der felsigen Küste am bottnischen Meerbusen und Wäldern, in denen die Dorfgemeinschaft auf Elchjagd geht.
Schnell will man dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen und die fehlenden Satzzeichen sind vergessen. Denn die Geschichte von Jana Kippo wirkt wie ein Sog, der hineinführt in komplexe, zutiefst menschliche Fragen: Wie entsteht Gewalt? Welche Wunden kann Kunst heilen? Wo findet Vergebung ihr Ende? Karin Smirnoff hat auch Hoffnung hineingeschrieben in diesen düsteren, starken Roman: für Jana Kippo – und für uns Leserinnen und Leser auf eine Fortsetzung auf Deutsch.

Karin Smirnoff: "Mein Bruder"
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein
Hanser Berlin, Berlin 2021
336 Seiten, 24 Euro

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