Karen Horn über Märkte und Marktregulierung

"Wir kommen in eine Welt des Regionalismus, der kleinen Verträge"

Ein Frachtschiff fährt bei Brunsbüttel in den Nord Ostsee Kanal
Ein Frachtschiff fährt bei Brunsbüttel in den Nord Ostsee Kanal © imago stock&people
Moderation: Marcus Pindur · 18.08.2018
Die Ökonomin Karen Horn hinterfragt die Verantwortung der Liberalen für die Weltwirtschaft. Marktwirtschaft könne heute nicht mehr als Laissez-faire gedacht werden. Doch sie warnt auch: "Regulierung ist eine Daueraufgabe und es ist nicht immer leicht für den Regulierer."
Marcus Pindur: Es ist ein Ereignis, das bis heute prägend für unsere Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist, das Lippmann-Kolloquim 1938 in Paris. Man könnte es mit Fug und Recht als eine der Geburtsstunden der Sozialen Marktwirtschaft bezeichnen oder auch als eine der Geburtsstunden des Neoliberalismus.
Der Philosoph Louis Rougier lud seine liberalen Freunde zu einer großen Konferenz nach Paris ein. Darüber und über die Folgen wollen wir im Tacheles-Gespräch reden, und zwar mit Dr. Karen Horn. Sie ist Dozentin für ökonomische Ideengeschichte, unter anderem an der Humboldt Universität in Berlin und an der Universität Erfurt, und freie Publizistin. – Guten Tag, Frau Horn.
Karen Horn: Guten Tag.
Marcus Pindur: Im August 1938 trafen sich also in Paris führende Liberale der Zeit, führende liberale Denker und Geistesgrößen. Was war damals ihr Anliegen?
Karen Horn: Sie haben sich getroffen in einer Zeit, in der sie den Eindruck hatten, dass liberale Konzepte in die Sackgasse geführt hatten und dass man mit den bisherigen Rezepten aus dieser Sackgasse auch nicht wieder herauskommt. Es ist die Zeit, in der in Deutschland Hitler bereits an der Macht war. Es ist die Zeit des sich ausbreitenden Bolschewismus, natürlich etliche Jahre nun schon nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution. Sie haben den Eindruck, dass die Welt in eine Art Totalitarismus von zwei Seiten rutscht – einen linken und einen rechten.
Politisch entspricht das natürlich nicht dem Ideal des Liberalismus. Und sie fragen sich, wie weit das zu tun hat mit ihrer eigenen liberalen Doktrin, mit den wirtschaftlichen Entwicklungen nach der Weltwirtschaftskrise. Auch für diese wird das liberale Laissez-faire verantwortlich gemacht. Und die Liberalen fragen sich eben, ob sie in einer falschen Richtung unterwegs waren und damit diese Entwicklung, die sowohl wirtschaftlich als auch politisch verheerend ist, mit verursacht haben.

Kartelle, Trusts und Monopole

Marcus Pindur: Also, sie stellten die Marktwirtschaft, so wie sie bis zur Weltwirtschaftskrise bestand, grundsätzlich infrage. Was kam dabei heraus? Was waren die Versatzstücke eines Lösungskonzeptes, die damals entwickelt wurden?
Karen Horn: Wie Sie schon sagten, der Befund war, es herrschte Laissez-faire. Darüber kann man noch streiten, ob das wirklich so befreit war, dass man es als Laissez-faire bezeichnen kann. Aber was in der Tat festzustellen war damals, das war das, was die Leute damals "Vermachtung" nannten, also eine wirtschaftliche Konzentration. Der wirtschaftliche Wettbewerb war mehr oder minder ausgehebelt. Es gab Kartelle, es gab Trusts, es gab große Monopole, die sich eben auch noch mit staatlichen Instanzen verstrickten.
Man hat erkannt, dass dadurch der Wettbewerb als ein Entmachtungsinstrument nicht mehr funktionieren kann. Also, die Erkenntnis war, man muss dafür sorgen, und das ist eine politische Aufgabe, dass der Wettbewerb intakt bleibt und sich nicht sozusagen von selber abschafft. Die Hoffnung, dass der Wettbewerb und damit das Hauptelement des marktwirtschaftlichen Systems sich von selbst erhält, dieser Illusion haben sie sich damals gestellt.
Marcus Pindur: Was dann institutionell in die Kartellämter mündete.
Karen Horn: Genau. Das ist aber eine Sache, die dann erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam.
Marcus Pindur: Die damaligen Neoliberalen haben ja wenig zu tun mit dem heutigen politischen Kampfbegriff neoliberal. Heutzutage ist damit ja meinst marktradikal gemeint. Und das ist es ja, nach dem, was Sie gerade beschrieben haben, genau nicht.
Karen Horn: Ja, es gibt so Begriffe, die einen Wandel mitmachen im Laufe ihrer Verwendung. In Tat, man hat damals den Begriff neoliberal benutzt. Der ist auch nicht erst auf dem Lippmann-Colloquium erfunden worden, sondern der schwirrte im öffentlichen Diskurs auch schon vorher herum. Aber man hat sich damals darauf geeinigt, ihn zu benutzen, um zu zeigen, dass man von dem Liberalismus des Laissez-faire wegkommen will und einen starken Staat schaffen möchte, der in der Lage ist, den Wettbewerb zu erhalten und damit immerhin in der wirtschaftlichen Sphäre dafür zu sorgen, dass es eben nicht dieses Entstehen von Machtstrukturen gibt.
Dieses Ziel ist etwas, was mit dem Begriff, wie er heute verwendet wird, in der Tat nicht mehr viel zu tun hat. Ich glaube, das stammt daher, dass im Rahmen dieses Betonens marktwirtschaftlicher Prinzipien ein Ökonomismus auch im Liberalismus Einzug gehalten hat, der dazu geführt hat, dass ökonomische Reformen oftmals durchgeführt worden sind, ohne daran zu denken, was das soziale Umfeld bedeutet, was für psychologische Faktoren bei Reformen auch immer eine Rolle spielen.
Also, es gab eine Engführung auf die Ökonomie, die dazu geführt hat, dass dieses Denken, das in möglichst freie, aber geregelte Märkte mündet, in Misskredit geraten ist.
Marcus Pindur: Da ist der Name Milton Friedman, glaube ich, besonders zu nennen, ein Ideologe des freien Marktes, der ursprünglich sich ja auch zu der neoliberalen Schule rechnete, sich aber dann im Laufe der Jahrzehnte doch eher radikalisierte.
Karen Horn: Ja, man könnte fast sagen, dass die Verwendung des Begriffs neoliberal ein bisschen mit Friedman mitgegangen ist. Er war dabei bei der Gründung der Mont Pèlerin Society 1947 in der Schweiz. Er war bei dem Colloque Lippmann nicht dabei.

Friedman - "vom ganzen Naturell her ein sehr forscher Mensch"

Marcus Pindur: Das ist eine liberale Gesellschaft.
Karen Horn: Genau, eine Gesellschaft von Wissenschaftlern und anderen Denkern, die sich mit dem Thema der Freiheit befassen. Jedenfalls, da war Friedman dabei. Er gehörte zu den führenden Köpfen einer Generation der ökonomischen Chicago School, deren Hauptarbeitsgebiet es war, darauf zu schauen, was für wirtschaftliche Reformen es braucht, um den Markt mit seiner Kraft zur Geltung kommen zu lassen.
Ich würde Friedman nicht einmal so sehr als Ideologen bezeichnen, weil er tatsächlich wirtschaftswissenschaftlich viel geleistet hat. Er hat den Nobelpreis nicht bekommen, weil er Ideologe war, sondern weil er mit seiner Geldtheorie, mit seiner Geschichte der Geldpolitik wesentliche Erkenntnisse gewonnen hat, auf die wir auch heute noch zurückgreifen in der geldpolitischen Steuerung durch die Zentralbanken. Aber er war vom ganzen Naturell her ein sehr forscher Mensch.
Marcus Pindur: Er war extrem staatskritisch. Er wollte zum Schluss überhaupt keine Einmischung des Staates mehr. Er hatte sich radikalisiert. – Ihnen gefällt der Begriff, jetzt angewandt auf Friedman, nicht?
Karen Horn: Nein. Also, er war sicherlich ein Radikaler, aber ich würde ihn nicht als einen Extremen bezeichnen, weil er schon in der Lage war, auch über die Ökonomie hinaus zu denken. Ich sehe ihn deswegen jetzt nicht als einen Ökonomisten, der vergessen hat, dass es auch soziale Zusammenhänge gibt.
Berühmt ist ja von ihm zum Beispiel der Ausspruch: "Immigration und Wohlfahrtsstaat vertragen sich nicht." In diesem Satz zeigt sich nicht nur einer, der staatskritisch und sozialstaatskritisch ist, sondern es zeigt sich auch jemand, der immigrationsfreundlich ist. Da sehen Sie einen ganz großen Unterschied zu manchen Strömungen heutzutage, wo es doch eher in Richtung Abschottung, Grenzschließung, Eindämmung der Immigration geht.
Marcus Pindur: Bevor wir uns auf die Gegenwart konzentrieren, möchte ich noch ganz kurz zurückkommen auf die ursprüngliche neoliberale Idee, nämlich dass der Staat die Regeln setzt, aber die Spieler auf dem Feld die Tore schon alleine schießen müssen. Der Markt ist frei, aber nicht voraussetzungslos. – Welcher Voraussetzungen bedarf er denn? Nennen Sie mal ein paar Elemente, die notwendig sind, damit ein Markt auch funktioniert auf Dauer.
Karen Horn: Die Erkenntnis der Neoliberalen war, dass es eine Ordnung braucht. Ich rede jetzt wieder von den historischen Neoliberalen und auch insofern über den Kern dessen, was das neoliberale Denken ausmacht. Also, es braucht einen Staat, der imstande ist, eine Rechtsordnung am Leben zu erhalten, die dafür sorgt, dass wirtschaftlicher Wettbewerb geregelt verläuft. Das heißt, Sie brauchen erstmal überhaupt ganz klassisch einen Rechtsstaat. Sie brauchen Gerichte, die in der Lage sind, die Gesetze auch durchzusetzen. Und Sie brauchen Gesetze, die sich auf die Wettbewerbsordnung beziehen.
Der Wettbewerb, wie gesagt, tendiert dazu, sich selber abzuschaffen, indem Strukturen entstehen, die immer monopolistischer werden. Da braucht es eine Fusionskontrolle, eine Kartellaufsicht. Es braucht einfach wettbewerbspolitische Regeln. Das sind immer wieder auch Herausforderungen, weil in neuen Wirtschaftszweigen, die Marktstrukturen sich oftmals spontan ergeben und man das nicht auf den ersten Blick erkennt, wo Machtballungen entstehen.
Ich rede da unter anderem über so große Konglomerate oder große Unternehmen wie Facebook und deren Vernetzungen. Das sind Sachen, die wir zum Teil noch gar nicht richtig erfassen. Da muss auch immer wieder nachjustiert werden.
Also, im Wirtschaftlichen ist einfach eine Wettbewerbspolitik wichtig. Und abgesehen davon ist es wichtig, auch zu erkennen, dass der Wert der Freiheit, der sich da im Wirtschaftlichen äußert, auch noch andere Ausdrucksformen findet. Das heißt, neoliberale Politik ist immer auch Gesellschaftspolitik oder sollte sie sein und ist eine, die das Individuum ins Zentrum allen politischen Nachdenkens stellt.

Jede Regulierung provoziert Ausweichstrategien

Marcus Pindur: Der Sozialstaat wurde also mitgedacht zum Markt?
Karen Horn: Er wurde mitgedacht, aber das bedeutet nicht, dass es einen Sozialstaat geben muss, der riesengroß ist. Es geht einfach darum, dass das Individuum geschützt ist vor Übergriffen Dritter. Diese Dritten können entweder einfach andere Individuen sein, Firmen sein, das sogenannte Kapital, oder auch natürlich der Staat. Es geht erstmal darum, eine Sphäre der Freiheit zu schützen. Und der Sozialstaat hat eine Aufgabe insofern, als es Bereiche gibt, in denen eigenverantwortliche Individuen sich nicht selber schützen können.
Darauf kann man sich in einem demokratischen Gemeinwesen einigen und sollte es allerdings so tun, dass man nicht die wirtschaftliche Effizienz des Ganzen zugleich damit wieder kappt.
Marcus Pindur: Der Sozialstaat muss bezahlt werden.
Karen Horn: In der Tat.
Marcus Pindur: Viele machen die Deregulierung der 90er Jahre verantwortlich für die Exzesse an den Finanzmärkten der 2000er Jahre, die dann eben in der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit der Großen Depression mündeten. Das war 2007/2008. Und viele sagten dann damals auch: Damit ist der Liberalismus aber auch endgültig diskreditiert. – Ist dem so?
Karen Horn: Die Aufarbeitung der Krise, denke ich, sollte langsam abgeschlossen sein. Es gibt sehr viele wissenschaftliche Untersuchungen darüber, was damals wirklich passiert ist. Und es gibt zwei Stränge, die ich vielleicht jetzt kurz verfolgen will:
Das eine ist Deregulierung, also falsche Regulierung. Das hat es in der Tat gegeben. Deregulierung ist nicht per se etwas Schlechtes, aber es kommt ja immer drauf an, wie man es macht, wie man reguliert und wie man dereguliert. Ich fürchte, dass da genau das stattgefunden hat, was die Neoliberalen schon in den 30er Jahren gesehen haben, nämlich dass der Staat zu nahe dran war an bestimmten Branchen und insofern nicht unparteiisch war und insofern eben nicht dieser starke Staat, der gefordert wurde, der jenseits der Interessen oder über den Interessen steht.
Also, es gab diese "regulatory capture", die dazu geführt hat.
Marcus Pindur: Das müssen Sie kurz übersetzen.
Karen Horn: Ja, Entschuldigung. Also, dass der Regulierer im Grunde schon seinen zu Regulierenden so gut kennt, dass er sich von dessen Zielen nicht genug distanzieren kann und die Regulierung nachher eher in dessen Interesse macht, als ihn einzuhegen. Also, das gab's einerseits.
Und auf der anderen Seite ist es einfach so, dass jede Regulierung natürlich Ausweichstrategien provoziert. Das ist ganz natürlich. Man muss sich immer wieder anpassen und man muss zusehen, was an neuen Wegen gefunden worden ist. Also, Regulierung ist eine Daueraufgabe und es ist nicht immer leicht für den Regulierer, dem gerecht zu werden.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch staatliche Fehler. Die darf man nicht aus dem Blick verlieren. Die Tatsache, dass diese Blase entstanden ist auf dem Häusermarkt, insbesondere in Amerika, hatte etwas zu tun mit einer Fiskalpolitik und auch mit der Geldpolitik in Amerika, die das Hauseigentum fördern wollte, die dafür sorgen wollte, dass diese Kredite zu entsprechend günstigen Konditionen verfügbar sind usw. Das sind lauter Fehler des Regierens gewesen und nicht der marktlichen Koordination.
Marcus Pindur: Nur, um das in Erinnerung zu rufen: Es haben sich durch eine leichtere Kreditvergabe viele Leute verschuldet, die sich das eigentlich nicht leisten konnten. Oder sie haben einfach zu große Schulden aufgenommen. Das hat dann dazu geführt, dass es dieses Segment des Marktes gab, wo irgendwann viele der Kredite notleidend waren.
Karen Horn: Genau. Insofern ist es immer ein Zusammenspiel zwischen staatlichem und marktlichem Versagen. Aber der Markt ist auch keine unabhängige Einheit, sondern er konstituiert sich aus dem Rahmen, den der Staat ihm lässt. Da war eben einiges im Argen.

"Wir brauchen die Kraft der wirtschaftlichen Koordination"

Marcus Pindur: Viele der Fragen, die sich vor achtzig Jahren stellten, stellen sich ja bis heute. Nehmen wir da zum Beispiel mal die Frage wachsender Ungleichheit, die besonders in Deutschland immer sehr sensibel wahrgenommen wird. Das war ein sehr großes Problem in den Jahren nach 1929, also während der Großen Depression. – Welche Antworten hatten die neoliberalen Denker denn darauf, auf das Phänomen sozialer Ungleichheit?
Karen Horn: Das ist in der Tat eine Frage, die sie sich stellen, schon auf dem Colloque Lippmann in Paris. Ihre Sorge ist, dass der Markt nicht imstande sei, die Zahl der zunehmenden Armen und der verarmenden Arbeiterschaft zu versorgen und insofern die soziale Frage in zufriedenstellender Weise zu beantworten. Man findet in den Protokollen des Colloque, und das ist einfach stellvertretend für das, was damals insgesamt diskutiert wurde, zwei Meinungen. Also, man muss sich die Neoliberalen auch nicht als eine Strömung vorstellen, die in allem Konsens hatte, sondern da gab es durchaus sehr unterschiedliche Positionen.
Es gibt die einen, die sagen: Wir müssen vor allem darauf achten, dass wir die wirtschaftliche Kraft der Märkte nutzen. Nur so können wir den Armen auch auf die Sprünge helfen. Also, wir brauchen die Kraft der wirtschaftlichen Koordination auf Märkten und dürfen die nicht zerstören. – Und das bedeutet in der Tat, die Märkte möglichst frei zu lassen und nicht einzugreifen.
Dann gibt es auf der anderen Seite diejenigen, die sagen: Aber Vorsicht, die Verelendung der Arbeiterschaft schafft auch politische Unruhe. Damit können wir nicht leben. Außerdem führt eine ungenügende Startposition auch dazu, dass die Leute gar nicht erst am Marktprozess teilnehmen. Dazu müssen wir sie schon befähigen. Insofern müssen wir einen mittleren Weg finden und dafür sorgen, dass es ein Netz gibt.
Wie genau dieses Netz aussieht, wie weit es gespannt werden soll, wie viel Geld da hineinfließen soll, soweit hat man das damals noch nicht ausbuchstabiert. Aber es ist auch im Denken der deutschen Ordoliberalen. Die deutschen Ordoliberalen waren sozusagen eben die typisch deutsche Ausprägung des frühen Neoliberalismus in den 30er und 40er Jahren. Die Ordoliberalen sagen: Es darf auch steuerliche Umverteilung geben. All diese Dinge sind deswegen gut und so lange gut, wie sie dazu helfen und beitragen, den Marktmechanismus, der auf der Kraft der Preissignale beruht, zu erhalten.
Insofern, das ist immer mitgedacht, man muss nur irgendwie eine Gratwanderung da gehen, dass man es nicht übertreibt. Wenn man die Preissignale, und das ist eigentlich der Prüfstein, wenn man die außer Kraft setzt, dann hat man sich selber geschadet.

Die Frage nach der gerechten Besteuerung

Marcus Pindur: Ich möchte nochmal zur Rolle des Staates kommen und zu einem Thema, das Liberalen immer sehr am Herzen liegt. Das ist die Besteuerung, die gerechte Besteuerung, die Frage nach der gerechten Besteuerung. Der urliberale "Economist" hat diese Woche in einem Kommentar eine generell andere Richtung bei der Besteuerung vorgeschlagen, nämlich dass man nicht mehr so sehr sich auf Unternehmensgewinne und Erwerbsinkommen bezieht, sondern dass man auch mehr Steuern auf Kapitaleinkünfte erhebt, also die Aktienbesitzer statt der Unternehmen zu besteuern, und dass man auch – und das ist sehr unbeliebt – eine höhere Erbschaftssteuer ansetzt.
Halten Sie das für zukunftsweisende Wege, die wir gehen müssen zwangsläufig – bei Unternehmen zum Beispiel wie Facebook, bei denen überhaupt physisch nicht mehr richtig klar ist, wo sind die eigentlich angesiedelt? Wo schöpfen die ihre Gewinne?
Karen Horn: Ich glaube, die technologischen Neuerungen und entsprechenden Unternehmensformen stellen uns vor solche Herausforderungen. Darüber muss man diskutieren. Aus liberaler Sicht gibt es ein paar Grundsätze zu beachten. Das eine ist erstmal, dass man eben versucht, die Anreizwirkung der Märkte nicht zu stören. Das kann man nur dann, wenn Steuern möglichst wenig verzerrend sind, also sozusagen meine Entscheidung, wofür ich mein Geld ausgebe oder wohin ich es hinein investiere, dadurch nicht verändert wird. Also, Steuern sollten möglichst neutral sein in ihrer Anreizwirkung.
Wenn man das so hinbekommt, indem man eine neue Steuer schafft und eine andere dafür runter fährt, ist das aus liberaler Sicht ökonomisch eine gute Sache. Es gibt aber natürlich auch noch andere Überlegungen. Das sind Gerechtigkeitsüberlegungen. Die sind Liberalen auch nicht so ganz fremd. Zu dieser Frage, glaube ich, braucht es einfach einen Prozess des Diskutierens und des Aushandelns im demokratischen Prozess. Man muss nur sehen, dass man es eben so macht, dass man ein Land in einem sozialen Frieden hält und seine Kraft sich entfalten lässt. Das dürfte auch von Land zu Land verschieden sein.
Marcus Pindur: Da treffen sich dann aber doch auch Liberale und Linke bei der Frage der Gerechtigkeit. Denn es ist schlicht und ergreifend keinem normalen Arbeitnehmer zu erklären, dass durchschnittlich fast die Hälfte seines Einkommens in staatliche Umverteilung fließt, dass aber ein Konzern wie Google nur ein Prozent seines Gewinnes versteuert. Das ist einfach doch nicht hinnehmbar. – Welche Mechanismen kann man denn da zur Anwendung bringen?
Karen Horn: Letztlich besteuert wird ja am Ende der Kette immer ein Subjekt. Also, Google gehört auch jemandem. Es gibt Anteilseigner und es gibt Leute, die eben dahinter stehen. Die werden schon besteuert. So ist das ja nicht.
Marcus Pindur: Aber weniger als die Arbeitnehmer, immer noch.
Karen Horn: Ja, genau. Da, denke ich, da kann man auch in der Tat drüber reden.
Marcus Pindur: Geschichte wiederholt sich nicht. Sie gibt uns aber Maßstäbe. Da lohnt der Blick zurück auch ins Jahr 1938. Im Gefolge der Weltwirtschaftkrise lag der Welthandel am Boden. Heute ist der Handel, der weltweite, der globalisierte Handel wieder einer Welle des Nationalismus und der Abschottung ausgesetzt. – Können wir aus den Entwicklungen der 30er Jahre lernen? Und vor allen Dingen, können uns die Neoliberalen da Antworten geben?
Karen Horn: Wir stehen in der Tat an einer Situation im Moment, die sehr ungemütlich ist, weil man den Eindruck hat, dass die Weltordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, so langsam zerbröselt. Ursache dafür ist auch, aber nicht nur, ein Donald Trump, der sich aus diversen Institutionen des Multilateralismus zurückzieht und eben Einzeldeals versucht zu erreichen.
Was die Welt eben seit 1945 erlebt hat, war ein Zusammenwachsen in verschiedenen Klubs, in den Verteidigungsklubs, in den wirtschaftlichen Klubs. Ich rede da von der EU bis zur Nato, der WTO, mit dem GATT als Vorläufer. All dies waren Institutionen, in denen man sich auf etwas gemeinsam verständigt hat. Das droht auseinander zu brechen jetzt. Insofern sind wir möglicherweise an der Schwelle einer ähnlichen Desintegration, wie man sie damals erlebt hat. Und man muss eben versuchen zu retten, was zu retten ist und eben diese bindenden Selbstverpflichtungen von Ländern aufrecht zu erhalten.

Sorge um die handelspolitischen Entwicklungen

Marcus Pindur: Wie stark die politischen Kräfte sein werden im Endeffekt, die sich hinter diese liberale Weltordnung stellen, wird sich noch zeigen. Aber wir haben ja ein positives Beispiel, wie man nämlich mit der Wirtschaftskrise 2008/2009 umgegangen ist. Da hatte man ja als Negativfolie die Jahre 1929 und 1930 vor Augen. – Was hat man 2008/2009 besser gemacht?
Karen Horn: Erstmal hat man gehandelt. Der große Fehler seinerzeit (1929) war ja eben, dass das Handeln ausblieb. Man hat (2008) gehandelt. Die Zentralbanken haben sich koordiniert. Man wusste einfach geldpolitisch mittlerweile, was zu tun war, und es hat auch funktioniert. Alle Sorgen, die man damals hatte, dass das alles überschießende Reaktionen auslösen wird, haben sich so nicht bewahrheitet. Insofern kann man einigermaßen beruhigt sein.
Mehr Sorge machen mir in der Tat die handelspolitischen Entwicklungen. Da, glaube ich, sind wir auf einem Trend, der wegführt von der Weisheit, also von der Erkenntnis, dass es für eigentlich alle Länder sinnvoll ist, sich langfristig darauf zu verpflichten, Märkte offen zu halten oder bestehende Barrieren abzubauen. Im Moment findet so ein Diskurs statt, der so klingt, als ob man aus moralischen Gründen sich für Freihandel entscheiden müsste. Dabei geht völlig verloren der Aspekt, dass es eben für jedes Land mittel- und langfristig sinnvoll ist, daran festzuhalten. Und jemand wie Trump führt dieses Denken ein, dass man etwas dabei verliert, wenn man sich in ein solches System einbindet. Das ist falsch gedacht. Das ist kurzfristig gedacht und es entwickelt, glaube ich, enorme Sprengkraft.
Marcus Pindur: Ja, es ist merkwürdig, dass viele, die in Deutschland gegen TTIP demonstriert haben, jetzt mit dem Finger auf Donald Trump zeigen und ihn der Abschottung bezichtigen, umso merkwürdiger, als wir ein Land sind, das fast die Hälfte seines Sozialproduktes durch Export verdient. Das müsste uns allen zu denken geben.
Bundeswirtschaftsminister Altmaier hat vor wenigen Tagen gesagt: Deutschland lasse sich seinen Handel auch nicht durch seinen engen Partner, die USA, diktieren. – Glauben Sie, das Donald Trump allein durch Twittern dieses Welthandelssystem und diese Interessenverflechtungen zu Fall bringen kann?
Karen Horn: Also, ich glaube, dass er das wahrscheinlich nicht durch Tweets alleine kann, aber er ist schon in einer Situation, in der er viel Schaden anrichten kann. Aber er ist nicht der Erste und er ist nicht der Einzige. Wir leben nicht in einer Welt des perfekten Freihandels bisher, aus der wir wegen Trump möglicherweise herausgeführt werden, sondern wir leben in einer Welt mit noch immer erheblichen Zöllen. Und die EU steht dabei tendenziell und im Durchschnitt schlechter da als Amerika.
Das Risiko, das jetzt vor uns steht, ist, dass diese selbst auferlegte Pflicht, sich zu einigen und Schranken abzubauen, aufgehoben wird und immer Abkommen nur zwischen wenigen Staaten ausgehandelt werden, die dann aber in verschiedenen Klubs miteinander nicht mehr viel zu tun haben . Also, von Klub zu Klub wird dann abgeschottet. Das heißt, wir kommen in eine Welt des Regionalismus, der kleinen Verträge. Es ist besser als nichts, aber es ist längst nicht so gut wie diese Selbstbindung, die in den großen multilateralen Vereinbarungen steckt.

Kulturelle Komponente bekomme mehr Gewicht

Marcus Pindur: Was kann denn deutsche Politik machen, um regelbasierten freien Welthandel zu verteidigen?
Karen Horn: Ich denke, erstens das erklären, dass es um ein langfristiges Interesse geht und dass man mit dem Verfolgen kurzfristiger Interessen irgendwann gegen die Wand fährt. Also, Trump wird jetzt im Moment mit dem, was er da macht mit seinen Auto- und Stahlzöllen, seiner Wirtschaft sehr schaden. Es wird eine bestimmte kleine Klientel profitieren. Insgesamt wird die amerikanische Wirtschaft, und nicht nur die natürlich, dadurch geschwächt. Das wird man ökonomisch immer wieder erklären müssen. Das müssen auch Politiker machen, dass sie darauf immer wieder hinweisen.
Ansonsten mit gutem Beispiel vorangehen, wäre das Rezept, also selber seine Zölle senken. Die EU sollte weiter daran arbeiten, dass sie ihre Hürden nach außen, also die Festung Europa, etwas mehr einnehmbar macht und dass sie nicht nur Lippenbekenntnisse zum Freihandel von sich gibt, sondern eben tatsächlich das macht, was sie auch von anderen sich wünscht.
Marcus Pindur: Ich möchte nochmal zu dieser Welle des Rechtspopulismus in der Welt zurückkommen. Eine gängige Erklärung für diese Welle des Nationalismus, der Abschottung ist, dass viele Menschen verunsichert seien und sich vor der Globalisierung und anonymen Marktkräften fürchteten und sich deshalb auf die einfachen Erklärungen der Rechten einließen. – Halten Sie dieses ökonomisch-soziale Argument für stichhaltig?
Karen Horn: Ich denke, eine monokausale Erklärung führt an der Stelle nicht weiter und trifft eben auch nicht die tatsächliche Entwicklung. Ein bisschen wird das eine Rolle spielen. Es wird auch eine Rolle spielen, dass Menschen zunehmend Angst bekommen vor kultureller Überfremdung. Ich denke aber, dass sich das nicht nur aus den Ängsten speist, sondern auch aus der Bewirtschaftung von Ängsten, also daraus, das Politiker gezielt diese Ängste schüren und ein Angebot parat halten, dass das wiederum bedient.
Letztlich ist es eine empirische Frage. Studien ergeben da bisher ein Bild, das zeigt, dass die kulturelle Komponente sogar ein bisschen stärker ist als die ökonomische. Aber ich sehe hier vor allem die Politik in der Bringschuld zu erklären, was an diesen einfachen Parolen und einfachen Ansätzen der Populisten – übrigens von rechts wie von links – falsch ist und inwieweit da die Leute für dumm verkauft werden und ihnen nicht wirklich geholfen wird.

Mit dem Auge des Historikers auf Entwicklung blicken

Marcus Pindur: Interessant ist ja, dass der Populismus von rechts und von links sich immer mehr annähert. Wir sehen das in dieser Bewegung von Sarah Wagenknecht, jetzt gegründet. – Diese Welle wird uns noch eine Weile begleiten Ihrer Ansicht nach?
Karen Horn: Ich glaube, es gibt solche Wellen tatsächlich. Wenn man ein bisschen das Auge des Historikers auf die Entwicklung wirft, dann sieht man, dass es immer Moden gibt, die dann auch wieder abklingen, weil dann Gegenmoden entstehen. Ich denke immer, dass ein solches sich Zuspitzen einer Situation auch immer eine Chance birgt, und zwar die Chance, dass man eben dagegen angeht und jetzt zum Beispiel eben die Werte des Liberalismus wieder in den Vordergrund stellt.
Das bedeutet gegenüber den rechten wie den linken Populisten, dass man warnt vor Nationalismen, dass man wieder darauf rekurriert, dass es letztlich in einem humanistischen und liberalen Weltbild darum gehen muss, dass Gute für jedes Individuum auf der Welt zu suchen. Da hat Abgrenzung und Ausgrenzung und Isolationismus keine Rolle zu spielen.
Marcus Pindur: Sie haben das in einem Essay bereits im im Herbst 2015 benannt. Also, als diese Willkommenswelle in Deutschland so gerade eben vorbei war, da haben Sie gesagt: Die Abgrenzung des Liberalismus von den neuen Rechten sei auch eine Chance, nämlich den normativen Markenkern des Liberalismus auch jenseits des Marktwirtschaftlichen klar zu benennen. – Was haben Sie damit gemeint?
Karen Horn: Neoliberalismus oder auch Liberalismus ist letztlich im Kern eine Lehre, der es darum geht, das Individuum in seiner Autonomie, in seinem Selbst zu schützen und zu stärken. Das bedeutet, dass man sich Sorgen macht um jeden Einzelnen, natürlich nicht nur um sich selbst, sondern um jeden Einzelnen, der Chancen haben soll, der ein gutes Leben führen können soll. Darum geht es. Es ist eine Idee oder eine Philosophie des Respekts der Toleranz, der Mitmenschlichkeit. Das sind Dinge, die für mich beim Liberalismus an erster Stelle stehen.
Und die ökonomische Kompetenz, die der Liberalismus entfaltet hat über die Jahre, dient sozusagen diesem Ideal. Wir brauchen Märkte, wir brauchen die Kraft der spontanen Koordination über Preissignale, um dies in den Dienst der Menschen zu stellen. Also, ein Liberaler vergöttert nicht den Markt. Der Liberale ist kein Kapitalist im Sinne, so wie es Marx einmal verstand, sondern der Liberale ist letztlich ein Menschenfreund, der alles nutzen will, was diese Welt uns beschert hat, um für jeden Einzelnen das Beste zu erwirken.

Karen Horn, geboren 1966 in Genf, hat an der Universität des Saarlandes und der Universität Bordeaux Volkswirtschaft studiert. Promoviert wurde sie an der Universität Lausanne. Sie hat in der Wirtschaftsredaktion der FAZ gearbeitet und von 2007 bis 2012 das Hauptstadtbüro des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln) in Berlin geleitet. Sie ist Mitherausgeberin und Chefredakteurin der Perspektiven der Wirtschaftspolitik (PWP), eines wissenschaftlichen Journals des Vereins für Socialpolitik (VfS), der traditionsreichen Vereinigung der Ökonomen im deutschen Sprachraum. Sie lehrt außerdem an der Universität Erfurt ökonomische Ideengeschichte und Wirtschaftsjournalismus.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Karen Horn.
© Beatríz Barragán / Karen Horn
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