Kapitalismuskritik

Europa muss von seinen Errungenschaften erzählen

Plakat an einem Berliner Haus: "Markt oder Mensch?"
Warum nicht von einem Binnenmarkt erzählen, der soziale Standards ebenso hoch hält wie Wettbewerb und Freizügigkeit, fragt Erik von Grawert-May in seinem Kommentar. © dpa/picture alliance/Paul Zinken
Von Erik von Grawert-May · 17.08.2016
Nach dem Brexit-Votum der Briten muss sich Europas Politik endlich in positiven Erzählungen widerspiegeln, fordert der Ökonom Erik von Grawert-May, - zum Beispiel über Werte wie Freiheit und soziale Standards. Sonst drohten Selbstgefälligkeit, Wehleidigkeit und Demagogie.
Wer ist nicht ins Staunen geraten, als ein Bernie Sanders die Amerikaner im Vorwahlkampf begeistern konnte, noch dazu junge Leute – und das ausgerechnet mit Ideen, die seit jeher im Politikbetrieb der USA als sozialistisch verschrien sind.
Der Grund dafür ist leicht gefunden: die Finanzkrise von 2008. Dort wie auch hierzulande begannen sich vor allem Studenten wie anno 68 wieder mit Karl Marx auseinanderzusetzen. Sie hielten sich nicht mit fundamentalen Schwächen des Finanzsektors auf, sondern fragten nach dem Versagen des Kapitalismus insgesamt. Von New York ausgehend, machte sodann die Occupy-Bewegung von sich reden.
Aber eben nur eine Zeit lang. Etwas fehlte noch: ein Funke, der den latenten Unmut unter einer breiten Wählerschaft zündete.

Rückkehr der Kapitalismuskritik

Warum hatte auf einmal ein kauziger Bernie Sanders, wieso ein rücksichtloser Donald Trump so leichtes Spiel, Massen anzuziehen und weshalb greifen derzeit hypernational gesinnte Parteien um sich, die mit dem Neo-Liberalismus gleich den liberalen Gedanken als solchen verabschieden?
Darauf antwortet der schnelldenkende britische Ökonom Niall Ferguson, weil die gesamte westliche Welt 2008 in ein massives Problem hineinschliddert sei – von derart geschichtlichem Ausmaß wie die Krisen 1873 und 1929.
Ein großer wirtschaftlicher Schock werde durch weitere Phänomene gefährlich zugespitzt: nicht steuerbare Völkerwanderung, starke Einkommensungleichheit, schleichender Korruptionsverdacht und schließlich vielzählig auftretende Demagogen. Damals wie heute hätten sich die Länder auf Druck ihrer Bevölkerung eingeigelt, so Ferguson, dadurch Globalisierung wie Migration abgebremst.

Herkulesaufgabe nach Brexit-Votum der Briten

Das äußerst knappe Votum der Briten für den historischen Einschnitt eines Brexit verlangt gerade den Europäern von nun an herkulische Anstrengungen ab. Ob es da ausreicht, Pragmatismus zu predigen, ist mehr als fraglich. Geht es doch um nichts weniger als einen Turn-around, wie die Ökonomen sagen.
Den gibt es nicht ohne eine Vision, nicht ohne Ziele, an denen sich pragmatisches Handeln orientiert. Vielleicht klingt "Narrativ" zu gestelzt, vielleicht "Erzählung" weniger verfänglich. Denn wurde den Befürwortern der EU nicht vorgeworfen, sie hätten während der Brexit-Kampagne immer nur die bösen Folgen eines Austritts beschworen. Etwas Positives zum Verbleib sei ihnen dagegen nicht eingefallen.
Europa braucht eine Erzählung, in die sich alle eingebunden fühlen. Sie handelt nicht von etwas Neuem, sondern von etwas Altem, was längst beschlossen wurde. Warum also nicht davon erzählen, wie ein Kontinent endlich politisch erwachsen wird, indem er seine Macht als demokratische Wertegemeinschaft von Freiheit und Würde erkennt und sie friedenstiftend in der Welt einsetzt.

Europäische Erzählung von globaler Verantwortung

Warum nicht von einem Binnenmarkt erzählen, der soziale Standards ebenso hoch hält wie Wettbewerb und Freizügigkeit, der zudem mit regionaler Entwicklung ernst macht.
Die Erzählung hat allerdings einen Haken: die Europäer müssen selbst Verantwortung übernehmen – für sich selbst, ihren Kontinent, ihre Nachbarschaft und für die Welt, mit der sie Handel treiben. Sie dürfen sich nicht länger hinter den Vereinigten Staaten verschanzen. Das erfordert eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine Wirtschafts- und Fiskalpolitik, die wenigstens im Kern-Europa harmonisiert ist, damit uns der Euro nicht um die Ohren fliegt.
Würde aber die EU zerfallen, befeuert von den demagogischen Einflüsterungen populistischer Parteien, dürfte es dereinst wie im Märchen heißen: Es war einmal ein Kontinent, der suhlte sich in seiner Selbstgefälligkeit und Wehleidigkeit. Er wollte nicht erwachsen werden. Und wenn er nicht gestorben ist, dann macht er das immer weiter so.

Erik von Grawert-May, aus der Lausitz gebürtiger Unternehmensethiker, lebt in Berlin. Letzte Veröffentlichungen "Die Hi-Society" (2010), "Roma Amor - Preussens Arkadien" (2011), "Theatrum Belli" (2013).


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