Kantiger Held aus dem Piemont

08.03.2007
Der 1971 geborene Davide Longo ist eine neue Stimme aus Italien, die sich in eine große Erzähltradition einordnet. In "Steingänger" entwirft er die Geschichte eines 50-jährigen Mannes, der in der Berglandschaft an der Grenze zu Frankreich lebt. Er schnitzt und trauert um seine verstorbene Frau, als ihn seine Vergangenheit als Schleuser einholt.
Davide Longo erzählt eine alte Geschichte. Es geht um Freundschaft und Verrat, um Abschied,
Alter und Rache und um die ungeschriebenen Gesetze in einer archaischen Welt. All das ist eingebettet in die schroffe Berglandschaft des Piemonts an der Grenze zu Frankreich. Im Mittelpunkt von Davide Longos großartigem Roman "Der Steingänger" steht der 50-jährige Cesare.

Ein vierschrötiger Kerl, der sich mit Schnitzereien von Heiligenfiguren die Zeit vertreibt, um seine verstorbene Frau trauert, in seiner Jugend zur See fuhr und den man im Dorf "den Franzosen" nennt. Sein Vater war mit der Familie nach Marseille ausgewandert. Cesare kehrte als Erwachsener in die alte Heimat zurück, aber das Fremde blieb an ihm haften: bis heute schlägt ihm Skepsis und Ablehnung entgegen. Weil Cesare heiraten wollte und Geld brauchte, übernahm er eine alte Familientradition. Sein Onkel zeigte ihm geheime Routen durch die Berge, die nach Frankreich führen. Seit jeher hatte man hier Waren geschmuggelt, Karawanen überfallen und Menschen auf die andere Seite der Grenze gelotst. Cesare wurde Schleuser.

Was es mit diesem kantigen Helden auf sich hat, erfahren wir aber erst nach und nach. Längst hat Cesare seinen Job an den Nagel gehängt, denn mit dem halsabschneiderischen Verschieben illegaler Flüchtlinge und Drogentransporten will er nichts mehr zu tun haben. Doch dann passiert etwas, was ihm keine Wahl lässt. Longo arbeitet mit starken Kontrasten, und sein perfekt durchkomponierter Roman setzt mit einem beschaulichen Bild ein: Sein Held sitzt am Abendbrotstisch, lässt seinen Blick über die grauschwarzen Bergkämme schweifen und löffelt seine Suppe. Als er nach dem Essen abwaschen will, stellt er fest, dass es kein Wasser gibt. Vielleicht hat sich Treibholz in den Rohren verfangen. Mit seiner Hündin geht Cesare durch die Dämmerung in eine verlassene Ortschaft, von wo das Trinkwasser aus einem Flussbett ins Tal geleitet wird. Im Becken stößt er auf einen Leichnam. Er kennt den Mann. Es ist sein Patensohn, gerade dreißig Jahre alt, auch er ein Schleuser. Sein Ohr hängt nur noch an einem Hautfaden, eine Forelle knabbert daran.

Mit einer ungeheuren Spannkraft entwickelt der piemontesische Schriftsteller, Jahrgang 1971 und von Kindheit an mit der Welt der Berge vertraut, seine Geschichte, führt eine zweite Hauptfigur ein, lässt die Parallelhandlungen aufeinander zulaufen und wartet ganz am Ende mit einer verblüffenden Wendung auf. Sergio, der Sohn eines Almbauern und wegen seiner weggelaufenen Mutter ebenfalls ein Ausgeschlossener, hat Fausto am Vorabend seines Todes beobachtet. Gemeinsam kommen Cesare und Sergio der Mission des Ermordeten auf die Spur. Die Polizei ermittelt ebenfalls, und als unmissverständliches Zeichen für das, was ihm droht, findet Cesare eines Tages seine Hündin. Sie baumelt tot von der Zimmerdecke. Unter seinem Betttuch liegen leblose Tieraugen, die ihn anstarren. Aber weil Fausto seinen letzten Auftrag nicht mehr zu Ende bringen konnte und Cesare ein starkes Empfinden für Ehre und Anstand hat, springt er ein: "Der Steingänger" gipfelt in eine nächtliche Schleuseraktion. Immer wieder hält Davide Longo das Rituelle der Dorfgemeinschaft in eindringlichen Bildern fest. Die Erzählerstimme ist diskret und vermittelt kommentarlos die Geschehnisse. Dennoch ist die Atmosphäre stark aufgeladen. Die Landschaft wird zum Spiegel der Figuren.

Davide Longo hat einen zeitgenössischen Heimatroman geschrieben, mit dem er sich in eine große italienische Erzähltradition einreiht. Spielerisch, ohne jeden Anachronismus, führt er das Erbe des Neorealismus fort und setzt auf die Kraft des Regionalen. Immer wieder spürt man den Einfluss von Cesare Pavese, der bis in die Gestaltung der Helden und den Rhythmus der knappen Kapitel hinein reicht. Auch sprachlich ist Longo auf der Höhe seines Stoffes. Endlich bricht ein Schriftsteller mit der allgemeinen Kulturglobalisierung und wagt etwas anderes. Eine neue Stimme aus Italien.

Rezensiert von Maike Albath

Davide Longo, Der Steingänger.
Aus dem Italienischen von Suse Vetterlein. Klaus Wagenbach Verlag Berlin 2007,
170 Seiten, 17, 50 Euro.