Kampf um Abtreibungsrecht

Wie Ultrakonservative die Menschenrechte auslegen

07:08 Minuten
Eine Frau hält die Heilige Maria während des Nationalen Marsches für "Leben und Familie" vor ihr Gesicht, um für das traditionelle Verständnis der Ehe und des Lebens von der Empfängnis an zu demonstrieren.
Marsch für das Leben und die Familie in Warschau: Abtreibungsgegner nutzen auch die Menschenrechte für ihre Agenda. © picture alliance/ NurPhoto/ Maciej Luczniewski
Von Lisa Westhäußer · 01.11.2021
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Ultrakonservative Organisationen haben schon länger das Abtreibungsrecht im Visier. In Polen konnten sie eine deutliche Gesetzesverschärfung erreichen. Hilfreich war dabei die Strategie aus den USA, mit dem Recht auf Leben zu argumentieren.
Tausende Menschen protestieren am Abend des 27. Januars 2021 vor dem polnischen Verfassungsgericht in Warschau. Vor wenigen Stunden ist ein Urteil rechtskräftig geworden, das Abtreibungen in Polen fast komplett verbietet. Nur noch nach einer Vergewaltigung oder wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, sind Abtreibungen erlaubt.

Ordo Iuris – ein katholischer Thinktank

Die Juristin Karolina Pawłowska begrüßt zu einer Konferenz über "Frauenrechte" des polnischen Thinktanks Ordo Iuris. Die katholische Organisation versteht Frauenrechte ganz anders als die Menschen auf den Straßen in Warschau. Ordo Iuris hat die Klage vor dem Verfassungsgericht mit vorbereitet, die zur Verschärfung des Abtreibungsverbots geführt hat - und nicht nur das.
"Der Gesetzesentwurf von 2016, der Abtreibung nicht nur einschränken, sondern sogar unter Gefängnisstrafe stellen sollte, war auch ein Entwurf von Ordo Iuris", erklärt Barbara Gaweda. Sie ist Politikwissenschaftlerin an der Universität Tampere in Finnland. Sie forscht zur ultrakonservativen Bewegungen in Europa.
Bei Ordo Iuris beobachtet sie "ein Kapern der Menschenrechte indem sie Föten, Embryos und sogar befruchteten Eizellen Rechte zuschreiben. Oder sie sprechen vom Recht des Vaters, dass sein Kind nicht abgetrieben wird oder vom Recht der Großeltern auf ein Enkelkind."

Ultrakonservative betreiben "Re-Framing"

Nicht nur Ordo Iuris, auch andere ultrakonservative Organisationen nutzen die Sprache der Menschenrechte für ihre Agenda. Kristina Stoeckl, Professorin für Soziologie an der Universität Innsbruck bezeichnet das als ein Re-Framing, also eine Umdeutung der Menschenrechte.
"Das Re-Framing von Menschenrechten hat eine längere Geschichte und reicht zurück bis in die 70er-Jahre", erklärt sie. "Vor allem ging es da um Abtreibung. Konservative Kräfte vor allem in den USA, die gegen Abtreibung aufgetreten sind, haben bemerkt, dass Argumente, die abzielen auf die Sündhaftigkeit von Abtreibungen oder die Sündhaftigkeit von Frauen, die Abtreibungen begehen, dass diese Argumente nicht fruchten."
Auch deshalb beginnen Ultrakonservative weltweit vom Recht auf Leben zu sprechen statt von göttlichen Geboten. Dabei konzentrieren sie sich auf einige wenige Artikel der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
"Einer ist Artikel 16, der Artikel, in dem steht, dass die Familie eine Kernzelle der Gesellschaft sei", sagt Kristina Stoeckl. "Das ist eine Phrase, die immer herangezogen wird von Pro-Familien-Aktivisten, die sagen, die Familie ist eine Kernzelle: Das heißt, sie ist ein in sich geschlossenes System. Sie leiten daraus die Forderung ab, dass der Staat sich aus der Familie heraushalten soll und damit besondere Rechte für Kinder oder eine besondere Berücksichtigung der Rechte von Frauen nicht zulässig wären."

Religiöse Regeln wichtiger als säkulare Gesetze

Diese Strategie ist aus den USA nach Europa gekommen. Organisationen wie Ordo Iuris tauschen sich darüber in einem nicht-öffentlichen Netzwerk mit dem Namen Agenda Europe aus. Dieses Netzwerk beobachtet Neil Datta seit einigen Jahren intensiv. Er ist Sekretär des Europäischen Parlamentarischen Forums für sexuelle und reproduktive Rechte, ein Zusammenschluss von Europaabgeordneten.
"Der Titel des Manifests von Agenda Europe lautetet ‚Die Wiederherstellung der natürlichen Ordnung‘. Diese natürliche Ordnung hat ein paar Schlüsselaspekte", erklärt Neil Datta. "Der Erste ist, dass menschliche Sexualität ausschließlich der Fortpflanzung dient. Ein anderer Aspekt ist, dass religiöse Regeln über säkularen Gesetzen stehen. Aber sie leben im 21. Jahrhundert und wissen, dass sie das nicht offen sagen können. Deswegen nutzen sie das Konzept des Naturrechts."
In diesem Verständnis sind manche Dinge von Natur aus gerecht und damit unverhandelbar: zum Beispiel die Unterschiede zwischen Männern und Frauen oder die traditionelle Familie. Homosexualität und Geschlechtsidentitäten jenseits von "Mann" und "Frau" sind in dieser natürlichen Ordnung nicht vorgesehen.

Gleichstellung – ein Angriff auf die "natürliche Ordnung"

Die Gleichstellungspolitik säkularer Staaten wird damit zum Angriff auf die natürliche Ordnung – und die Meinungsfreiheit. Gläubige müssen diskriminieren dürfen, wenn ihre Religion das vorsieht.
"Wir befinden uns mitten in einem globalen Krieg. Ein Krieg zwischen marxistischen Atheisten, die die Gleichheit einführen wollen und den Gläubigen, die für Gerechtigkeit kämpfen", sagt Gabriele Kuby.
Gabriele Kuby ist eine der wichtigsten ultrakonservativen Aktivist*innen in Deutschland und spricht hier auf einer Konferenz von Ordo Iuris. Ihre Tochter, Sophia Kuby, arbeitet für die ADF International Austria gGmbH. Die ist in den Finanzberichten der US-amerikanischen Organisation ADF – Alliance Defending Freedom als deren Tochtergesellschaft aufgeführt.
Die ADF wird in den USA wegen ihrer Hetze gegen sexuelle Minderheiten von der Nichtregierungsorganisation Southern Poverty Law Center als hate group gelistet. Die ADF bestreitet das. Sophia Kuby ist einige Jahre als eine der Hauptorganisatorinnen von Agenda Europe aufgetreten. Die Organisation, für die sie arbeitet, die ADF International Austria gGmbH, hat sich wie Ordo Iuris auf strategische Gerichtsverfahren spezialisiert. Das erklärt Neil Datta vom Europäischen Forum für sexuelle und reproduktive Rechte.*
"Spezialisierte Anwältinnen und Anwälte suchen nach geeigneten Fällen und bringen sie vor die europäischen Gerichte", sagt er. "Das machen sie zum Beispiel bei Fällen der sogenannten 'Verweigerung aus Gewissensgründen'. Dabei bewerben sich Personen, die keine Abtreibungen durchführen wollen trotzdem als Geburtshelferinnen und -helfer in Ländern, in denen Abtreibung zu diesem Beruf gehört. Und dann erklären sie sich zu Opfern von Diskriminierung."
Dass die Mitglieder vom Netzwerk Agenda Europe mit solchen Klagen immer wieder vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kommen, sieht Neil Datta als Erfolg der Bewegung. Auch wenn sie bei größeren Prozessen bisher noch nie Recht bekommen haben. Auch in Deutschland nicht: ADF international hat zum Beispiel eine Familie aus Hessen unterstützt, die ihre Kinder aus religiösen Gründen zu Hause unterrichten wollte. Die Klage in Straßburg scheiterte.

"Das ist keine Krankheit von uns hier in Osteuropa"

Insgesamt scheint das ultrakonservative Re-Framing von Menschenrechten in Deutschland noch keine große Rolle zu spielen, sagt Kristina Stoeckl von der Universität Innsbruck. Doch die polnische Politikwissenschaftlerin Barbara Gaweda warnt davor, Agenda Europe zu unterschätzen.
"Ich würde sagen, dass ihr nicht ruhig schlafen könnt. Das ist keine Krankheit von uns hier in Osteuropa", sagt sie. "Der Erfolg von Agenda Europe zeigt, dass diese Leute bei vielen Menschen einen Nerv treffen. Sie geben Antworten auf gesellschaftliche Unsicherheiten, schreckliche, intolerante und diskriminierende Antworten, aber es sind einfache Antworten."
*Wir haben eine inhaltliche Korrektur vorgenommen.
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