Kalifornien und Corona

Vom Vorbild zum Krisenherd

23:33 Minuten
Eine Frau läuft an einem Wandgemälde von 'Hijackhart' vorbei. Es zeigt Soldaten, die desinfizieren. Los Angeles, Kalifornien, 2020.
Die dramatische Corona-Situation in Kalifornien spiegelt sich auch in Street Art wider - wie auf diesem Wandgemälde von Hijackart in Los Angeles. © AFP/Apu Gomes
Von Katharina Wilhelm und Marcus Schuler · 15.02.2021
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Anfangs reagierte Kalifornien schneller als andere US-Bundesstaaten auf die Pandemie und fuhr das öffentliche Leben komplett herunter. Doch dann schnellten die Infektionszahlen wieder in die Höhe: auf über drei Millionen. Wie konnte das passieren?
Kalifornien Mitte Januar 2021: die Corona-Fallzahlen erreichen neue Höchststände. Mehr als drei Millionen Menschen in dem 40-Millionen-Einwohner Bundesland sind mit dem Coronavirus infiziert. Im Großraum Los Angeles stirbt alle acht Minuten ein Mensch an Covid-19.
Die Lage ist dramatisch. So dramatisch, dass die Leiterin des Gesundheitswesens in Los Angeles, Barbara Ferrer, den Menschen rät, sogar zu Hause eine Maske zu tragen.
"Wenn Sie jeden Tag rausgehen, um zu arbeiten oder um die Einkäufe zu erledigen, raten wir, die Maske anzubehalten. Es sorgt für eine Extraportion Sicherheit und hilft, die Fallzahlen zu verringern."
Blauer Himmel, Palmen, eine Straße, ein Platz und ein Schild "Geschlossen".
Fast 45.000 Menschen sind in Kalifornien schon an Covid-19 gestorben. Das öffentliche Leben ist weitgehend eingeschränkt, viele Parks und Spielplätze sind geschlossen.© Katharina Wilhelm, ARD-Studio Los Angeles
Gemeint sind damit vor allem Haushalte, in denen mehrere Generationen unter einem Dach leben. Mit Menschen jenseits der 80, die besonders gefährdet sind, dass Corona sie töten könnte.

Kalifornien hat die meisten Todesfälle in den USA

Viele Menschen in Kalifornien hatten sich das vor Monaten kaum träumen lassen. Der Sonnenstaat stand mit relativ niedrigen Fallzahlen im Vergleich zum Rest der USA gut da. Heute hat sich das Bild dramatisch verändert: Kalifornien ist mittlerweile der Staat der USA mit den meisten Covid-19-Todesfällen. Fast 45.000 Menschen sind hier der Krankheit bereits erlegen.
Die deutsche Epidemiologin Beate Ritz von der Universität UCLA, die seit 25 Jahren in Kalifornien lebt, sagt: Dass die Pandemie vor allem den Großraum Los Angeles so erwischt hat, sei eigentlich nicht erstaunlich. Man sehe durch Corona überdeutlich die krasse Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Weißen und Schwarzen sowie Latino-Einwohnern in Kalifornien:
"Wir wissen, dass Weiße im Durchschnitt einen höheren Lebensstandard haben, mehr Wohnfläche haben, aber auch eine andere Art von Arbeit machen. Es macht einen Riesenunterschied, wenn man im Büro oder im Management arbeitet, dann kann man die Arbeit mit nach Hause nehmen, man kann sie über Zoom machen.
Viele der Latinos und der Schwarzamerikaner, die im Servicesektor arbeiten, können die Arbeit nicht mit nach Hause nehmen. Und besonders die Latinogruppen sind dafür bekannt, dass sie auch kulturell sehr zusammenhalten. Und wenn die etwas nach Hause bringen, dann bringen sie es nicht zu einer Person oder vielleicht zwei, sondern dann bringen sie es zu dem ganzen Haushalt."
Eine ältere lächelnde Dame mit dunkelumrandeter Brille und auffälliger Halskette.
Viele Latinos und Schwarzamerikaner, die im Service-Sektor arbeiten, können kein Homeoffice machen, sagt Epidemiologin Beate Ritz.© Andrew Hida
Epidemiologin Beate Ritz erforscht den Zusammenhang zwischen Krankheiten und sozialen Strukturen. Neben beengten Wohnverhältnissen und Jobs, bei denen Kontakt mit vielen anderen Menschen unvermeidbar ist, verschärfe das unfaire Sozial- und Gesundheitssystem in den USA die Lage zusätzlich. Zum Beispiel für Menschen, die in Jobs arbeiten, mit denen sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder eine Krankenversicherung haben:
"Man hat dann weniger Krankenversicherung, man traut sich nicht, den Arzt zu sehen, wenn man Symptome hat. Man traut sich auch nicht, von der Arbeit wegzubleiben, wenn man Symptome hat. Die soziale Ungleichheit trägt dazu viel bei."

Kredite für Vollzeitangestellte und Selbstständige

Besonders gravierend sei die Situation für alle, die ohne Dokumente in den USA lebten, die ohnehin schon aus dem Raster fielen. Anders sieht es aus für Vollzeitangestellte oder Selbstständige. Sie können in Kalifornien finanzielle Unterstützung erhalten, zum Beispiel in Form von Krediten.
Trotzdem: Das Auf und Ab der Öffnungen und Schließungen von Geschäften, Reise- und Ausgangsbeschränkungen, die die Kalifornier seit März erleben, bedeuten für viele erheblichen Stress und eine große finanzielle Unsicherheit.
So erlebt es auch Friseurin Tina Weissauer, die in Santa Monica einen kleinen Salon betreibt:
"Ich habe seit Beginn der Pandemie die Hälfte meiner Kunden verloren. Ich habe in Luftfilter investiert. Wir haben uns an alle Auflagen gehalten, da wurden wir wieder gezwungen, zu schließen.
Zwischendrin habe ich vier Monate die volle Miete bezahlt, Tausende Dollar, ohne zu arbeiten. Oft haben ich und meine Kollegin uns gefragt: Machen wir zu? Jeden Tag frage ich mich, ist es das wert?"
Eine junge Frau in T-Shirt und Jeans steht neben einem dunklen Friseursstuhl mit Waschbecken, auf das sie ihre Hand legt.
"Jeden Tag frage ich mich, ist es das wert?" - Friseurin Tina Weissauer.© Privat
Seit einigen Tagen darf Tina Weissauer wieder arbeiten. Ende Januar hat der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom die so genannte "Stay-at-Home-Order" aufgehoben, also die strengen Ausgangsbeschränkungen, die teilweise auch zu Reisebeschränkungen innerhalb des Bundesstaates geführt haben.
Gavin Newsom steht unter Druck. Kalifornien ist innerhalb der USA eine große Wirtschaftsmacht. Aber viele Industriezweige und Branchen leiden. Gouverneur Newsom muss abwägen zwischen wirtschaftlichen Interessen und der öffentlichen Gesundheit.
Viele Gewerkschaften haben Newsom bereits verklagt. Sie fordern die Öffnung der Betriebe. Der Autobauer Tesla beispielsweise hat sich gerichtlich gegen ein Arbeitsverbot durchgesetzt.

Ist Hollywood "für die Grundversorgung wichtig"?

Und die milliardenschwere Filmindustrie hatte zuletzt den besonderen Status "essenziell" erhalten, also "für die Grundversorgung wichtig", was den Filmstudios ermöglichte, weiter zu arbeiten, im Gegensatz zu vielen anderen Branchen.
Unfair findet das Tina Weissauer. Am Filmset in Hollywood hätte die Friseurin seit Monaten ohne Probleme arbeiten dürfen.
Viele Regeln, so beklagt sie, seien undurchsichtig. Der kalifornische Gouverneur bekommt diese Unzufriedenheit zu spüren: Es gibt eine Petition für seine Abberufung. Wenn diese genug Stimmen erhält, könnte es sogar zu Neuwahlen kommen.

Hohe Fallzahlen, weil man zu schnell gelockert hat

Pandemie-Forscher wie John Swartzberg von der Universität UC Berkeley warnen vor einem schnellen Ausstieg aus dem Lockdown. In Kalifornien seien die Fallzahlen deshalb so schnell gestiegen, weil man zu schnell gelockert habe.
John Swartzberg, der in Berkeley nahe San Francisco lebt, sagt, Kalifornien sei ein gespaltener Bundesstaat, was Corona angeht. Die Pandemie sei sehr unterschiedlich verlaufen. Das liege auch an Erfahrungen mit anderen Gesundheitskrisen:
"Wenn wir nach Nordkalifornien schauen, dann existiert dort ein deutlich besseres Verhältnis zwischen den Gesundheitsämtern und der Politik. Das geht zurück auf die Zeit, in der in der Bay Area die Aids-Krise begann."

San Francisco ist im Vorteil durch den Umgang mit Aids

Neben New York war San Francisco in den 80er-Jahren das Epizentrum der HIV-Epidemie. Die Erfahrung mit Aids habe San Francisco und den umliegenden Kommunen im Kampf gegen Covid-19 sicherlich einen Vorteil verschafft, ergänzt Professor George Rutherford, Epidemiologe an der Universität von San Francisco.
"San Francisco hatte einen großen Vorteil, weil sowohl die Gesundheitsämter als auch viele Mediziner an den Universitäten auf ihre Erfahrungen aus der Aids-Pandemie in den 80er- und frühen 90er- Jahren zurückgreifen konnten.
Ich selbst bin 1985 von der Gesundheitsbehörde CDC nach San Francisco gekommen und habe viele Programme gestartet. Dieses Know-how ist uns jetzt zugutegekommen."
Ein großer leerer und mit Bändern abgesperrter Platz mit vereinzelten Autos und Zelten. In der Mitte steht ein monumentales rundes Gebäude.
Spritzen im Paket - Massenimpfungen auf dem Parkplatz an der Veranstaltungsstätte Inglewood Forum.© Katharina Wilhelm, ARD-Studio Los Angeles
Obgleich San Francisco nach New York zu den dichtbesiedelsten Städten der USA gehört, blieb die Zahl der Verstorbenen pro 100.000 Einwohner deutlich unter den Werten von Los Angeles.

Bessere Zahlen als Los Angeles

In San Francisco gab es bislang 39,8 Tote pro 100.000 Einwohner. In Los Angeles liegt diese Zahl um das Viereinhalbfache höher. Hier sind 179,8 Tote pro 100.000 Einwohner zu beklagen.
Man habe es geschafft, sowohl die Zahl der Toten als auch der intensivmedizinschen Fälle niedrig zu halten, sagt Rutherford. Schon Ende Februar habe die Bürgermeisterin von San Francisco, London Breed, den Notstand erklärt:
"Am 16. März haben dann alle Landkreise der Bay Area eine Ausgangsbeschränkung verhängt. Die sechs Gesundheitsämter haben gemeinsam agiert. Erst eine Woche später hat der Gouverneur des Bundesstaates diese Maßnahme für den gesamten Staat angeordnet. Damit konnten wir die Übertragungsraten gleich von Anfang an niedrig halten."
Mehrere Menschen stehen mit Abstand in einer Schlange vor einem großen weißen Gebäude, vor dem eine Säule mit der Beschriftung "Dringend" steht.
Schlange stehen vor der Notaufnahme: mit 179,8 Tote pro 100.000 Einwohner ist die Situation in Los Angeles besonders dramatisch.© Katharina Wilhelm, ARD-Studio Los Angeles
Dass die Infektionszahlen nicht so stark angestiegen sind wie im Süden des Bundesstaates rund um Los Angeles, liegt auch an der Infrastruktur des Staates. In der Bay Area ist das Silicon Valley beheimatet. Dort haben große Tech-Unternehmen wie Google, Apple oder Facebook ihren Sitz.

Homeoffice im Silicon Valley geht einfach

Büro-Arbeitsplätze überwiegen. Die Umstellung auf das Homeoffice ist den Hunderttausenden Beschäftigten im Silicon Valley vergleichsweise leichtgefallen, sagt die aus Deutschland stammende und jetzt in Palo Alto lebende Managerin Katharina Borchert:
"Die Tech-Unternehmen haben größtenteils die Technologie, die man dafür braucht, ohnehin schon im Haus gehabt, sie hatten reichlich Erfahrung damit, sind es gewohnt, über Videokonferenz mit Teams in anderen Städten oder auch anderen Ländern und Zeitzonen zu arbeiten. Jeder Mitarbeiter hat einen Laptop und konnte schon immer mal tageweise von zu Hause aus arbeiten. Da waren sowohl die Technologie als auch die Teamfähigkeit größtenteils schon vorhanden."
Die Technologie-Unternehmen gehören zu den Industriezweigen, die wie kaum ein anderer Bereich von der Pandemie profitiert haben. Seit Monaten melden Konzerne wie Google, Apple oder Facebook einen Quartalsgewinn nach dem anderen.
Doch die schöne Welt des Silicon Valley scheint ihre Strahlkraft zu verlieren. Tausende haben in den vergangenen Monaten den Sonnenstaat für immer verlassen. Vorgemacht haben es Unternehmen wie Oracle, Palantir oder Hewlett-Packard Enterprise. Sie alle sind in andere Bundesstaaten umgezogen. Hauptgrund: die hohen Steuern.

"Wenig Wohnraum für sehr, sehr viel Miete"

In San Francisco sind es die hohen Mieten und die steigende Kriminalitätsrate. Viele Unternehmen sind dazu übergegangen, es ihren Angestellten zu überlassen, ob sie im Büro oder von zu Hause aus arbeiten wollen.
"Ein großer Teil der Probleme, die Kalifornien oder vor allen Dingen das Silicon Valley traditionell hat, sind wegen der Pandemie nicht verschwunden. Die Lebenshaltungskosten sind immer noch unglaublich hoch, obwohl jetzt zum ersten Mal seit Ewigkeiten die Mieten wieder ein bisschen gesunken sind.
Aber man bekommt verhältnismäßig wenig Wohnraum für sehr, sehr viel Miete. Die Steuern sind die höchsten im ganzen Land und man muss sowohl das Silicon Valley und Kalifornien schon sehr lieben und wirklich sehr viel Geld verdienen, um hier dauerhaft leben zu wollen. Und die Pandemie hat gezeigt, dass es eben doch nicht die Verpflichtung geben muss, unbedingt ins Büro zu gehen."
Eine große Tafel mit Verhaltensregeln steht vor einem Park auf der Straße.
"Santa Monica Cares" - Corona-Warnhinweise am Strand.© Katharina Wilhelm, ARD-Studio Los Angeles
Auch wenn Kalifornien jetzt eine groß angelegte Impfkampagne gestartet hat, das Virus bleibt im Vorteil. Es mutiert und kann sich so noch schneller ausbreiten meint der Epidemiologe John Swartzberg von der Universität Berkeley:
"Mindestens zwei neue Stränge sind hier in Kalifornien gefunden worden. Der eine, L452R, wird in Verbindung gebracht mit einem großen Corona-Ausbruch in einem Krankenhaus in San José. Die neuen Varianten sind gar nicht so neu, sie wurden früh gefunden, haben aber zunächst keine so große Rolle gespielt. Es gibt neue Ergebnisse, die uns zumindest sagen, dass sie sich verbreitet haben."

Die große Rolle der Mutationen

Die Mutationen spielten eine immer größere Rolle beim Kampf gegen Corona sagt Mediziner Swartzberg. Hauptproblem: In den USA werde viel zu wenig auf Mutationen getestet.
"Wir testen nur etwa ein Prozent unserer Proben auf Mutationen, in Großbritannien sind es 10 bis 20 Prozent. Wir wissen nicht, wie sehr sich die Mutationen verbreitet haben, sei es die aus Großbritannien, Brasilien. Aber sie sind alle hier."
Fest steht zumindest eines: Der Kampf gegen das Coronavirus in Kalifornien ist noch lange nicht zu Ende.
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