Kalász und Holland: "Dies wird die Hypnose des Jahrhunderts"

Poetisches Bild des Lebens in Ungarn

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Das Cover des Buches "Dies wird die Hypnose des Jahrhunderts".
"Dies wird die Hypnose des Jahrhunderts" könnte hellsichtig die Gedichte einer neuen Zeitenwende eingefangen haben, meint unsere Kritikerin. © Klax Verlag / Deutschlandradio
Von Insa Wilke · 02.08.2019
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32 Dichterinnen und Dichter stellen in "Dies wird die Hypnose des Jahrhunderts" die ungarische Lyrik der Gegenwart vor: Sie entwerfen ein Porträt ihrer Generation, die den Wunsch hat, nach den Sternen zu greifen und die Eltern hinter sich zu lassen.
Vor Kurzem hat die New Yorker Publizistin Masha Gessen, selbst in der Sowjetunion geboren, mit ihrem vielfach ausgezeichneten Buch "Die Zukunft ist Geschichte" die Generation der nach 1980 geborenen Russinnen und Russen porträtiert. Entstanden ist ein oft bedrückendes, aber auch zukunftsweisendes Buch über Europas Zeitenwende Ende der 80er-Jahre und deren Folgen.
Genauso spannend ist vor diesem Hintergrund ein Buch, dass die Dichterin und Übersetzerin Orsolya Kalász und der Verleger und Literaturvermittler Peter Holland herausgegeben haben: "Dies wird die Hypnose des Jahrhunderts. Ungarische Lyrik der Gegenwart" stellt 32 nach 1980 geborenen Lyrikerinnen und Lyriker vor. Was zeigt sich für ein Bild vom Lebensgefühl in Ungarn, diesem konfliktträchtigen Mitglied der Europäischen Union, das für die deutschen Flüchtlinge 1989 als Grenzöffner eine so wichtige Rolle spielte?

Die Wirklichkeit kehrt zurück

In seinem Nachwort schreibt Márió Z. Nemes, der unter anderem mit "Going Underground" eines der witzigsten Gedichte beigetragen hat, dass nach dem Ende der Sowjetunion die kulturpolitisch eingesetzte Lyrik abgelöst worden sei durch "End of History"-Schreibweisen und einen Rückzug in "Schichten der Intimität".
Erst nach der rechtskonservativen Wende, die durch den Wahlsieg der Fidesz-Partei 2010 eingeleitet wurde, sei wieder mehr gesellschaftliche Wirklichkeit in die Lyrik zurückgekehrt, eine "Neue Ernsthaftigkeit". Und jede Menge Vitalität, liest man die Gedichte der umtriebigen Autorinnen und Autoren, die Multimediakunst und Onlinemagazine betreiben, sich in Lyrikgruppen organisieren, übersetzen und keineswegs resigniert wirken, obwohl die Gesamtatmosphäre des Bandes eher düster ist.
"Das ist kein Gedicht, ich bringe bloß meinen Beklemmungen das Reden bei", schreibt etwa Márton Simon in seinem vom Haiku inspirierten Zyklus "Polaroids". Die Beklemmungen seiner Generation rühren vom Gespür für den demokratischen Scheinfrieden her. Darauf weisen die Jagd- und Blut-Metaphern in den ersten Gedichten ebenso hin wie ambivalente kosmische Bilder und die Auseinandersetzung mit den Eltern und Großeltern.
Oder auch mit der Hybris des Menschen im Anthropozän: Der sich wie Ikaros die Flügel zu versengen droht und einen Pakt mit dem Teufel einzugehen scheint, wenn Haare und Drähte futuristisch brutal zu "kommunizierenden Gefäßen" werden, wie im gleichnamigen Gedicht von Kinga Toth.

Gesellschaftskritische Stimmen werden laut

So schwierig es ist, formale Verfahren und Charakteristika anhand der Übersetzungen nachzuvollziehen, so deutlich werden die korrespondierenden Themen und Motive dieses klug komponierten Bandes.
An dessen Ende werden deutlich gesellschaftskritische Stimmen laut, um "die Traurigkeit der Wohlstandsländer / mit Stumpf und Stiel auszurotten" oder die "fetten Knetbäuche der Macht" alias "Volksvertreter" bloßzustellen: "Sie haben einiges abgestaubt und arbeiten seit 20 Jahren an einer passenden Ideologie dazu", schreibt die erst 26-jährige Lili Kemény.
Orsolya Kalász und Peter Holland präsentieren mit ihrem Übersetzerteam eine Generation, die in der "eingepferchten Gegenwart" nach Luft ringt und gerade erst beginnt, die sich aus dem "Bunker der Nachkriegszeit" zu befreien. "Dies wird die Hypnose des Jahrhunderts" könnte daher hellsichtig die Gedichte einer neuen Zeitenwende eingefangen haben.

Orsolya Kalász und Peter Holland: "Dies wird die Hypnose des Jahrhunderts. Ungarische Lyrik der Gegenwart"
KLAK Verlag, Berlin 2019
122 Seiten, 15 Euro

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