Esra Kücük über den "Fall Özil"

"Diese Debatte ist symptomatisch für den Backlash, den wir erleben"

Sotschi, 23.06.2018 Mesut Özil beim WM-Spiel gegen Schweden in Sotschi/Russland.
Mesut Özil beim WM-Spiel gegen Schweden in Sotschi. © picture alliance/augenklick/firo Sportphoto
Esra Kücük im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 24.07.2018
Im Jahr 2006 stand Deutschland noch für ein modernes Einwanderungsland, sagt Esra Kücük, Geschäftsführerin der Allianz-Kulturstiftung. "Da ist die Geschichte Mesut Özils eine Geschichte von Normalität." Kücük nimmt eine große Veränderung nach dem Sommermärchen war.
Der deutsche Nationalspieler Mesut Özil habe mit seinem Rückzug aus der Nationalmannschaft "das schönste Tor gegen den faschistischen Virus" geschossen. Das sagte der türkische Justizminister, nachdem Özil seine Entscheidung verkündet hat. Starker Tobak.
Die Theatermacherin Esra Kücük, nimmt am 22.09.2016 in Berlin an einer Pressekonferenz der Initiative "Offene Gesellschaft" zu ihrem Konzept "365 Tage Offene Gesellschaft" gegen Rechtspopulismus und eine "Kultur des Hasses" in Politik und Gesellschaft teil. Foto: Wolfgang Kumm/dpa | Verwendung weltweit
Esra Kücük, Gründerin der Jungen Islamkonferenz© picture alliance/dpa/Wolfgang Kumm
Mesut Özil, der von sich selbst sagt, in seiner Brust schlage ein deutsches und ein türkisches Herz, hat sich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan beim "shake hands" fotografieren lassen. Dafür ist er gescholten worden. Das hat er wiederum jetzt scharf kritisiert - vor allem, dass sich der Deutsche Fußballbund nicht schützend vor ihn gestellt habe.

Große Veränderungen seit dem "Sommermärchen"

Die Diskussion, die Özils öffentliche Äußerungen nun nach sich zieht, sei "symptomatisch für den Backlash, den wir gerade erleben", sagt Esra Kücük, Gründerin der Jungen Islamkonferenz und Geschäftsführerin der Allianz-Kulturstiftung. Eine große Veränderung seit dem "Sommermärchen" von 2006 sei in Deutschland spürbar. "Wir sind seit einiger Zeit gefangen in einer Debatte um Zugehörigkeit, um Anerkennung, um den Wettstreit von 'wer darf dazugehören und wer darf nicht dazugehören'".
Bezogen auf viel diskutiertes Özils Bekenntnis, sich sowohl zu Deutschland wie auch zur türkischen Heimat seiner Eltern bekennen zu wollen, sagte Kücük: "Ich würde eher sagen, das ist die Realität im 21. Jahrhundert, dass sehr viele Menschen unterschiedliche Zugehörigkeiten haben und wir in einer globalisierten Welt leben." Deutschland habe noch 2006 für ein modernes Einwanderungsland gestanden. "Und da ist die Geschichte Mesut Özils einfach eine Geschichte von Normalität in diesem Land."

Das Interview im Wortlaut:

Stephan Karkowsky: Der Fall Mesut Özil hat die Republik ganz schön durcheinandergewirbelt. Man hat den Eindruck, alle laufen wie aufgeschreckte Hühner durcheinander. Aber auch die Heftigkeit der Reaktionen war überraschend, etwa die Hau-Drauf-Kritik von FC-Bayern-Chef Uli Hoeneß, der Özil als Belastung für die Nationalelf darstellte. Aber auch die Claqueure aus der Türkei verblüfften mit Sätzen wie, Özil habe mit seiner Entscheidung "das schönste Tor gegen den faschistischen Virus" geschossen. Das sagte der türkische Justizminister. Auch wir wollen weiter reden über den Fall Özil, heute mit Esra Kücük, vormals Maxim-Gorki-Theater und Gründerin der Jungen Islamkonferenz. Heute ist sie Geschäftsführerin der Allianz-Kulturstiftung. Frau Kücük, guten Morgen!
Esra Kücük: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Karkowsky: Hat Ihrer Ansicht nach Außenminister Heiko Maas recht, wenn er sagt:
Heiko Maas (O-Ton): Ich glaube auch nicht, dass der Fall eines in England lebenden und arbeitenden Multimillionärs Auskunft gibt über die Integrationsfähigkeit in Deutschland.
Karkowsky: Was meinen Sie?
Kücük: Ja, Heiko Maas spricht in diesem Statement an, wie wir Integration bisher eigentlich gemessen haben, nämlich ob jemand gut in den Arbeitsmarkt integriert ist, ob er gute soziale Beziehungen hat, Bildung und so weiter, und so fort. Es gibt viele Integrationsindikatoren, die sozusagen messen sollen, wie jemand in der Gesellschaft teilnimmt und partizipiert. Unter diesen Aspekten ist es natürlich besonders drastisch jetzt bei Mesut Özil, der noch vor einigen Jahren, 2010, einen Integrationspreis erhalten hat, und wir noch vor einigen Jahren – wir erinnern uns alle an das Sommermärchen 2006 – über die große Integrationskraft von Fußball gesprochen haben, dass wir jetzt diese symbolische Debatte führen, ist im Grunde symptomatisch für den Backlash, den wir gerade erleben.

Die Absurdität der Debatten

Karkowsky: Ist es nicht eigentlich absurd, Mesut Özil als Integrationsbeispiel hervorzuheben? Der ist doch längst ein Weltbürger, das ist ja das, was Heiko Maas meint. Da könnte man schon eher Helene Fischer als Integrationsvorbild diskutieren. Die ist, anders als Özil, ja nicht mal in Deutschland geboren.
Kücük: Sie sehen ja bei der Absurdität der Debatten, dass es gar nicht um den konkreten Fall geht, sondern um die Symbolpolitik, die dahintersteckt. Wir sind seit einiger Zeit gefangen in einer Debatte um Zugehörigkeit, um Anerkennung, um den Wettstreit von "wer darf dazugehören und wer darf nicht dazugehören". Und dass wir jetzt diesen Punkt erreicht haben, dass Spitzenleistungsträger aufgrund ihrer Herkunft meinen, dass sie eben Ausgrenzungserfahrungen machen, unabhängig davon, was de facto passiert ist, und dass Mesut Özil auch zu kritisieren ist, was dieses Foto betrifft, geht es ja darum, dass er jetzt anklagt, dass sich der DFB eben nicht vor ihn gestellt hat und die Rassismus-Vorwürfe verschärft worden sind.
Karkowsky: Nun wird ja darüber vor allem gestritten jetzt, über die Frage, ob die Kritik an Özils Foto mit Erdogan bereits rassistisch war, wie Özil ja in Teilen behauptet, oder ob er sich hinter diesen Rassismus-Vorwürfen nur versteckt, wie beispielsweise der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach hier sagt:
Wolfgang Bosbach (O-Ton): Das erfüllt den Tatbestand des groben Unfugs. Es ist wirklich Unfug. Man muss doch einen Sportler, einen Spieler kritisieren können, völlig unabhängig von Hautfarbe, Religion oder seiner Herkunft oder der Herkunft seiner Eltern. Das hat doch nichts mit Rassismus zu tun. Und es geht auch nicht darum, dass jemand seine Herkunft verleugnen soll.

"Die Realität des 21. Jahrhunderts"

Karkowsky: Ich übersetze jetzt mal, was Bosbach sagt: Özil habe hier die Rassismus-Keule rausgeholt. Was sagen Sie?
Kücük: Im Grunde ist das, was Herr Bosbach, da sagt, genau das, was eben nicht passiert ist. Jemanden zu kritisieren, weil er sich mit einem Autokraten trifft, ist eine richtige Kritik. Aber jemanden zu kritisieren, weil – vielleicht erst mal so ausgedrückt: Dann müsste der DFB dies aber ganz konsequent tun, nämlich bei allen Spielern, die sich mit Autokraten treffen, egal welcher Herkunft sie sind. Diese Debatte wurde ja jetzt aber verschärft ausgelöst, weil Mesut Özils Eltern aus der Türkei kommen und hier ein Loyalitätskonflikt vermutet wird, also mal so gesprochen: Ist Mesut Özil jetzt wirklich für Deutschland oder nicht, wenn er sich mit dem türkischen Präsidenten trifft? Und da merkt man einfach, welchen Vertrauensverlust wir gerade wieder haben. Dass man sich gegenseitig plötzlich wieder nicht vertraut und die große Loyalitätsfrage in den Mittelpunkt stellt.
Karkowsky: Diese Mehrfachidentitäten sind natürlich etwas, was ein Biodeutscher nur schwer verstehen kann. Wenn Özil etwa sagt, ich habe zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches. Wie zerrissen sind denn die Deutsch-Türken Ihrer Ansicht nach? Lässt sich das verallgemeinern?
Kücük: Das ist ganz spannend, dass Sie das gleich als zerrissen sozusagen interpretieren. Ich würde eher sagen, das ist die Realität im 21. Jahrhundert, dass sehr viele Menschen unterschiedliche Zugehörigkeiten haben und wir in einer globalisierten Welt leben und letztendlich Deutschland, und das ist das, wofür Deutschland 2006 noch stand, nämlich für ein modernes Einwanderungsland. Und da ist die Geschichte Mesut Özils einfach eine Geschichte von Normalität in diesem Land.

Özils Fehleinschätzung

Karkowsky: Man konnte als Außenstehender manchmal auch den Eindruck kriegen, bei Özil ging es hier um die Familienehre, die er verteidigen wollte, und dafür war er sogar bereit, seine Karriere als Nationalspieler zu beenden. Oder ist das ein falscher Eindruck?
Kücük: Familienehre – dafür kenne ich Mesut Özil nicht persönlich, um das beurteilen zu können. In seinem Statement lese ich, dass er schreibt, dass er den türkischen Präsidenten vor einigen Jahren schon mal getroffen hat und das nicht kritisiert wurde, und er ihn jetzt getroffen hat und daraus eine sehr große Debatte von Vertrauensverlust entstanden ist, und er darin sozusagen nicht den Unterschied sieht. Dass das eine Fehleinschätzung ist, dass in einer Zeit von Wahlkampf in der Türkei er damit dem türkischen Präsidenten auch geholfen hat, ich finde, das hätte er in seinem Statement deutlich machen müssen, dass das eine Fehleinschätzung war. Dennoch kann man ihn dafür kritisieren, ohne ihm abzusprechen, dass er Deutscher ist, und keiner mehr als jemand, der seit Jahrzehnten für die Nationalmannschaft so viel Erfolge eingenommen hat.
Karkowsky: Das sagt Esra Kücük, vormals Maxim-Gorki-Theater. Sie ist Gründerin der Jungen Islamkonferenz gewesen, heute Geschäftsführerin der Allianz-Kulturstiftung. Ich sage herzlichen Dank für das Gespräch!
Kücük: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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