Kältepol der Grausamkeit

18.12.2008
Warlam Schalamow (1907-1982) verbrachte 20 Jahre im Gulag, davon 14 im Dauerfrostgebiet von Kolyma. Mit seinen "Erzählungen aus Kolyma" dokumentiert Schalamow den grausamen Alltag im Gulag, die tödliche Kälte, die Schikanen der Lagerinsassen, aber auch den kleinen Funken Hoffnung der Todgeweihten. Schnörkellos präsentiert er dem Leser eine zutiefst unmenschliche Welt.
Die Temperaturen in den fernöstlichen sibirischen Lagern des Archipel Gulag fallen im langen Winter auf minus 60 Grad. Die Häftlinge trugen eine dünne Lagermontur. Mit nackten Füßen in Gummischuhen, die die Kälte gut leiten, förderten sie in Bergwerken Gold und Uran oder schlugen an verschneiten Hängen Bau- und Brennholz ein. Finger und Zehen erfroren und eiterten. Nachts froren den Häftlinge die Haare an den Zeltwänden fest. Die Lebensmittelrationen waren winzig. Die Menschen starben in der Regel in drei Wochen. Pferde wurden besser ernährt, starben aber dennoch früher.

Den Menschen, schreibt Warlam Schalamow in "Linkes Ufer", dem zweiten Band seiner Erzählungen aus Kolyma, ohne Hohn, zeichnet der Überlebenswille aus. Der sozialistische Lagerhäftling erfuhr wie der nationalsozialistische KZ-Insasse den vollständigen Bankrott des Humanismus. Diese Erfahrung und der Verzicht auf jede Ästhetisierung bei der literarischen Umsetzung unterscheiden Schalamow von Alexander Solschenizyn. Er steht eher Jean Améry, Primo Levi, Tadeusz Borowski und Imre Kertèsz nahe.

Dennoch gibt es Hoffnung in diesen Erzählungen, eine erbärmliche Hoffnung. Denn anders als in den ersten Jahren des Stalinschen Terrors, die der erste Band der Erzählungen aus Kolyma schildern, ist der Staat in den vierziger Jahren nicht mehr unkontrollierbar mörderisch - er ist nur noch mörderisch. Die Lagerleiter können sich nicht mehr wie 1937 alles erlauben, und die Häftlinge freuen sich, wenn sie lediglich 5 statt 10 oder 15 Jahren Verbannung erhalten. Der Terror ist Alltag geworden.

In den vierziger Jahren folgen auf die erste Häftlingsgeneration, die ihre willkürliche Verhaftung meist verzweifeln und binnen kurzem sterben ließ, Menschen, die Krieg und Terror kennen gelernt haben. Es entstehen Ansätze von Häftlingsorganisationen, und inmitten des langsamen Verhungerns und Erfrierens, der Denunziationen und Repressalien kommt es einmal sogar zum Undenkbaren: Eine Gruppe von ehemaligen Kriegsgefangenen, die Stalin als Verräter gelten, versucht lieber die hoffnungslose Flucht aus dem Lager, als den sicheren Tod abzuwarten.

Warlam Schalamow (1907-1982) überlebte diesen "Kältepol der Grausamkeit" nur, weil er zufälligerweise zum Sanitäter ausgebildet wurde. 20 Jahre verbrachte der Oppositionelle im Gulag, zunächst von 1929 bis 1932 in Lagerhaft und Verbannung auf den Solowki-Inseln, dann von 1937 bis 1951 im Dauerfrostgebiet von Kolyma. Auf die Entlassung folgten zwei Jahre Verbannung nach Jakutien. 1954 wurde Schalamow rehabilitiert und schrieb bis 1973 an den "Erzählungen aus Kolyma", die erst Ende der 1980er Jahre in der Sowjetunion vollständig publiziert werden konnten.

"Wer den Gulag überlebte", schreibt Schalamow, "war in Freiheit, aber frei ist er nie wieder: Schon morgen kann er wieder deportiert werden". Von diesem Lebensgefühl der zum Tode Verurteilten erzählt Schalamow in der schnörkellosen Übersetzung von Gabriele Leupold auf harte, dokumentarisch anmutende Weise. Lakonie, Jargon und Auslassungen oft gerade der brutalsten Szenen schleudern den Leser ohne Einleitung, ohne Erklärung, ohne Distanz hinein in eine unmenschliche Welt unter Todgeweihten. Er wird nicht nur Zeuge dieses Geschehens, sondern auf erschütternde Weise verstrickt in eine moralische Ausweglosigkeit, in der es nur ein Gesetz gibt: das des Überlebens.

Rezensiert von Jörg Plath

Warlam Schalamow: Linkes Ufer, Erzählungen aus Kolyma 2
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold
Herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2008
320 Seiten. 22,80 Euro